Zahnbürste und Rasierpinsel im rechten Winkel

Ein Besuch in der DDR-Strafvollzugseinrichtung Ückermünde / Die meisten Gefangenen werden infolge der Amnestie bis Weihnachten entlassen / Vom Arbeitsappell bis zum Bettenbau herrscht absolute Disziplin  ■  Von Plutonia Plarre

Ückermünde (taz) - Die berüchtigten DDR-Strafanstalten Bautzen und Brandenburg sind zur Zeit für westliche Medienvertreter dicht. Auch für die Gefängisse in Magdeburg, Cottbus, Potsdam und Ost-Berlin, in denen die Gefangenen gleichfalls mit Hungerstreiks und Arbeitsverweigerungen für eine umfassende Amnestie und humane Haftbedingungen den Aufstand proben, wird vom Ministerium für Inneres keine Besuchsgenehmigung erteilt, „bis sich die ganze Sache beruhigt hat“. Das ist allerdings nicht absehbar, denn die am vergangenen Mittwoch verkündete Amnestie für rund 15.000 hat die Langstrafer erst recht in Wallung gebracht: Begnadigt werden nämlich nur Gefangene, die zu maximal drei Jahren Haft verurteilt worden sind und von diesen auch nur die, die nicht wegen Rowdytums, Sexualdelikten, Raub, Erpressung, schwerer Körperverletzung noch vorsätzlicher Tötungsdelikte verurteilt worden sind.

Nicht von ungefähr wurde der taz nur ein Blick hinter die Mauern der am Stettinerhaff gelegenen, kleinen Strafvollzugseinrichtung Ückermünde gewährt. In dem Knast, in dem der sogenannte „erleicherte Vollzug“ praktiziert wird, weil hier nur Haftstrafen bis zu zwei Jahren verbüßt werden, geht das Leben - von einem eintägigen Warnstreik abgesehen - noch seinen sozialistischen Gang. Das hat seinen guten Grund, denn das Gros der rund 300 männlichen Gefangenen im Alter zwischen 25 und 60 Jahren wird aufgrund der Amnestie bis Weihnachten entlassen sein. Übrig bleiben 30 Männer. Unter ihnen sind sechs junge Gefangene, die als Anhänger einer angeblich neofaschistischen Gruppe namens „Tschingis Khan“ wegen Rowdytums zu anderthalb- bis zweijährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Ebenso acht Männer, die wegen „Raubes“ einsitzen, wobei als Raub in der DDR schon gilt, jemandem ohne Waffe die Brieftasche wegzunehmen.

In der Ückermünder Anstalt herrscht militärischer Drill. Die Gefangenen müssen sich in Zweier- und Dreierreihen aufstellen und auf Befehl zur Früh-, Mittags- oder Nachtschicht zum Heizungsverschrauben beziehungsweise Montieren von Leiterplatten in die internen Betriebe oder in die nahelegene Maschinenbaufabrik nach Torgelow ausrücken. Großformatige Sichtparolen in dem mit Mauern und Stacheldraht umzäunten Gelände künden von der „Arbeit als gesellschaftliche Grundvoraussetzung für die allseitige Entwicklung des Menschen“. 100prozentige Normerfüllung ist absolutes Muß. Auf 700 bis 1.000 Mark beziffern sich die Löhne, ausgezahlt werden jedoch davon nur 18 Prozent als Taschengeld für den Einkauf im anstaltsinternen Konsum. Der Rest geht aufs Rücklagen- und Schuldenkonto. Auch in den vier barackenähnlichen Verwahrhäusern, in denen die Gefangenen zu sechst in 23 Quadratmeter großen Räumen wenige auch zu zwölft auf 47 Quadratmetern - untergebracht sind, wird zur Sauberkeit, Ordnung und Disziplin erzogen: Der Boden ist spiegelblank gewienert, die Betten akurat gebaut, wenn die Zahnbürsten und Rasierpinsel in den Spinden nicht alle im gleichen Winkel angeordnet sind, gibt es für die Raumbelegschaft kollektiven Punkteabzug.

Trotzdem scheint der Vollzug in mancherlei Hinsicht humaner zu sein als in vergleichbaren geschlossenen Strafanstalten in der Bundesrepublik und West-Berlin. So können sich die Gefangenen nach Feierabend bis zur Nachtruhe frei in ihrem Haus bewegen, an Gesprächsangeboten des Gruppenbetreuers teilnehmen. Neuerdings gibt es auch Diskussionsveranstaltungen über gegenwärtige politische Fragen. Jedes Verwahrhaus verfügt über einen geräumigen Aufenthaltsraum, der mit einem Fernseher, Aquarien und Grünpflanzen ausgestattet ist. Die Mahlzeiten werden pro Haus und Schicht etappenweise in einem großen Saal im Küchentrakt eingenommen. Über den in Hufeisenform zusammengestellten Eßtischen hängt ein zweimal zwei Meter großes zweiteiliges Bild. Auf der rechten Hälfte ist ein Mann in grüner Gefangenenkluft zu sehen, der sich beim Essen auf dem Tisch herumlümmelt. Auf der linken Hälfte sitzt der Gefangene kerzengerade da. „Wir essen so“ und „so nicht“, ist über den Bilder zu lesen.

Ausgang und Urlaub bekommen die Ückermünder Gefangenen nicht, Ausnahmen werden nur in absoluten Ausnahmefällen oder bei besonderer Führung gemacht, was nach Angaben des Anstaltsleiters, Major Spielberg, aber „nur selten“ vorkommt. Die medizinische Versorgung für die Gefangenen ist besser als für die Bevölkerung draußen.

Die Anstalt ist einem Regiment von rund 100 blauunifomierten Bediensteten unterstellt, die vom einfachen Wachoffizier über den Bereichsleitenden Oberleutnant bis zum leitenden Major alle miltärischen Dienstgrade tragen, aber wie alle Strafanstalten in der DDR dem Ministerium für Inneres unterstellt sind. Zwölf Prozent haben ihr Parteibuch zurückgegeben, die übrigen sind noch SED-Mitglieder.

„Wir leben hier im Vergleich zu Bautzen und Brandenburg wie die Fürsten“, erzählt ein 45jähriger Gefangener, der als sogenannter „Kammerbrigadier“ in der Wäscheausgabe arbeitet und zusammen mit vier Insassen von Bediensteten als Interviewpartner ausgesucht wurde. Die auserkorenen Gefangenen berichten, daß ihr eintägiger Warnstreik ein Akt der Solidarität mit den übrigen Strafanstalten war, denn für sie seien die Forderungen nach Verbesserung der Versorgung und Arbeitsbedingungen nur ein untergeordnetes Problem. Viel wichtiger sei eine Strafrechtsreform, damit die „Lutschparagraphen 47, 48, 51 und 52“ endlich wegkämen, „weil die am meisten zur Rückfahrkarte führen“. Mit diesen Paragraphen werden den Gefangenen nach ihrer Entlassung vom Gericht Aufenthaltsbeschränkungen und Maßnahmen zur Wiedereingliederung aufgegeben. Das heißt, daß ihnen von der Kreisabteilung für Inneres ein Wohn- und Arbeitsplatz zugewiesen wird. Aus Disziplinierungsgründen wird dabei jedoch nicht nach den Qualifikationen der Strafentlassenen verfahren, sondern werden gezielt minderwertige Arbeiten ausgesucht. Kellner müssen sich als Tellerwäscher verdingen, Facharbeiter als Güllefahrer, Frisöre als Straßenfeger. Wer die zugewiesene Arbeit verweigert, macht sich eines „asozialen Verhaltens“ schuldig und wird dafür - sofern er noch einmal eine Straftat begeht -, doppelt hart bestraft. So wurde ein 31jähriger Ückermünder Gefangener, der sich nach seiner Entlassung im Jahr 1987 geweigert hatte, als „Hühnerkiller“ auf einem Geflügelschlachthof zu arbeiten, weil er Maurer ist, kurze Zeit später wegen asozialen Verhaltens und Diebstahls einer Flasche Schnaps im Wert von 30 Mark fünfzig zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Diesmal hoffen die Gefangenen auf einen günstigeren Start, denn die angeblichen „Wiedereingliederungsmaßnahmen“ werden bei einer Amnestie nicht angewandt. „Bei der Bewerbung kann uns keiner erzählen, es ist nichts frei, schließlich sind 100.000 DDR-Bürger abgehauen“, meint ein 29jähriger Insasse und fügt hinzu: „Wenn das nicht stimmt und die bei Inneres wieder anfangen rumzueiern, dann hauen wir auch ab.“ Der Optimismus der Gefangenen wird von dem stellvertretenden Leiter, Major Hellmund, allerdings nicht geteilt. Hellmund, der seit 30 Jahren im Strafvollzug tätig ist, bezeichnet die Urteilspraxis der Gerichte „zu drastisch und oftmals ungerecht“, tritt für eine durch „schonungslose Ehrlichkeit“ bedingte Strafrechtsreform ein, hat aber die Sorge, daß dabei „Bewährtes nicht bewahrt“ wird: „Wenn die soziale Seite, Arbeit und Wohnung, nicht gesichert ist, dann fängt bei uns ein Kreislauf an, den wir vorher nicht kannten.“

In der angestrebten Leistungsgesellschaft würden die Gefangenen nämlich „die ersten sein, die in der Gosse liegen“, weil kein Betriebsleiter mehr gezwungen werden könne, sie zu beschäftigen. „Die Gesellschaft hat kein Recht, die Bürger, die sie in die Strafvollzugseinrichtungen reingebracht hat, verkümmern zu lassen“, meint er, wohlwissend, daß diese Auffassung vom durchschnittlichen DDR -Bürger nicht geteilt wird: „Die meisten halten von der Amnestie überhaupt nichts, weil sie dann nämlich wieder ihren Weihnachtsbraten unter Verschluß bringen müssen, weil die Karnickeldiebe unterwegs sind.“