Sacharows Streikaufruf verhallt ungehört

■ UDSSR: Am Vortag des Volksdeputiertenkongresses wurde der Aktionstag gegen Artikel6 kaum befolgt

Moskau (taz/afp/dpa) - Der Aufruf zu einem „Aktionstag“ gegen die Führungsrolle der Kommunistischen Partei ist gestern in der Sowjetunion kaum befolgt worden. Zu der Aktion - einen Tag vor der heutigen Eröffnung des Volksdeputiertenkongresses - hatte am Sonntag die Interregionale Gruppe von radikalreformerischen Deputierten aufgerufen. Mit Versammlungen, Telegrammen und Streiks sollte Druck auf den Kongreß ausgeübt werden, den Artikel 6 aus der Verfassung der UdSSR zu streichen, der die Führungsrolle der Partei festschreibt. Das Druckmittel des Aktionstages, mit dem auch Gesetze zu Boden, Eigentum und Unternehmen durchgesetzt werden sollten, war ein Kompromiß innerhalb der Interregionalen Gruppe. Fünf der Deputierten, darunter der Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, hatten ursprünglich zu einem zweistündigen Warnstreik aufgerufen, was jedoch mehrere Deputierte der Gruppe abgelehnt hatten.

Ein zweistündiger Streik wurde in vier der 13 Zechen von Workuta befolgt, war vom Stadt-Streikkomitee zu erfahren. Die Bergarbeiter von Donezk und Makejewka im ukrainischen Donbassbecken wandten sich dagegen. Das Streikkomitee von Donezk begründete die Entscheidung mit der wirtschaftlichen Situation des Landes. Die Arbeiter bekundeten jedoch auf einer Versammlung am Arbeitsplatz ihre Unterstützung für die Ziele der Deputiertengruppe. In Leningrad versammelten sich am Sonntag etwa 1.000 Menschen und votierten gegen einen Streik, beschlossen jedoch, ein Telegramm an das Präsidium des Volksdeputiertenkongresses zu schicken.

Am Samstag hatten sich über 200 Deputierte der „Interregionalen Gruppe“ zusammengesetzt, um über ein organisiertes Vorgehen auf dem Kongreß zu beraten. „Wir haben das getan, um organisierter aufzutreten als auf dem Ersten Kongreß, als wir uns gegenseitig widersprachen“, sagten sie nach Abschluß ihrer Tagung. Außerdem beschloß die Deputiertengruppe, die insgesamt 287 Mitglieder zählt, daß jeder Abgeordnete in seinem eigenen und im Namen der Gruppe vor dem Kongreß auftreten solle. Damit tritt zum ersten Mal in einem sowjetischen Parlament eine Gruppe als Opposition auf.

Zu einer Revision der oppositionellen Bewegung im ganzen Staate sollte diese große Versammlung werden: Nicht nur etwa 170 Mitglieder der Gruppe waren erschienen, sondern auch Vertreter der Streikkomitees aus sämtlichen Bergbauregionen der Sowjetunion, Abgesandte der Gesellschaft Memorial, der Initiative für freie Gewerkschaften, der Armee -Gewerkschaftsinitiative „Der Schild“ und der neuen Bewegung „Demokratische Plattform KPSS“, die aus dem Moskauer Parteiklub hervorging und im ganzen Land innerhalb der KPdSU für ein Mehrparteiensystem kämpfen will. Selbst im fortschrittlichen Moskau, so referierte für diese Organisation der Deputierte Lyssenko, wären nur 33 Prozent der Parteimitglieder bereit, eine solche Perspektive mitzutragen. Um das Gewicht der demokratischen Kräfte im Obersten Sowjet zu erhöhen und die Aktionen der verschiedenen sich stark vermehrenden Klubs und Komitees zu koordinieren, ist gezielte Organisationsarbeit notwendig. Einige Abgeordnete aus der Provinz beklagten sich, daß sie trotz mehrfacher Anträge an das Präsidium des Obersten Sowjet während der vergangenen Sitzungsperiode nicht ein einziges Mal auf die Rednerliste gesetzt wurde. Einig war man sich in der Unzufriedenheit mit der Diskussionsleitung des Präsidiums. „Was hier vorgeht, ist eine Gängelung unserer Abgeordneten. Die Überregionale Gruppe darf kein PEN -Club werden, wir sollten nicht Volksvertreter spielen, sondern wirklich Volksvertreter sein“, forderte der Abgeordnete Subkov aus Samara. Er sprach sich dafür aus, daß während der Tagung des Kongresses der Volksdeputierten Demonstrationen und Meetings nicht mehr - wie letztes Mal verboten sein dürften.