Gedämpfte Hoffnung auf ein neues Chile

■ In einer landesweiten Kampagne trugen chilenische Frauen ihre Forderungen für eine zukünftige Demokratie zusammen. Adressat: Patricio Aylwin, Präsidentschaftskandidat der Opposition, der morgen höchstwahrscheinlich zum neuen Staatsoberhaupt gewählt wird.

Lisa Luger

Fast pünktlich setzt sich der „Zug der Freude“ in Bewegung. Fahnen und Spruchbänder flattern aus allen Fenstern. Hunderte von ausgelassenen Frauen winken und singen. 10 Stunden braucht der Sonderzug vom Hauptbahnhof in Santiago bis nach Concepcion, im Süden Chiles. Dort treffen sich am nächsten Tag über 1.500 Frauen aus dem ganzen Land, um dem Präsidentschaftskandidaten der Opposition, Patricio Aylwin, ihre Vorschläge und Vorstellungen über eine zukünftige Demokratie zu unterbreiten. Der Zug rattert durch Vorstädte, an Industrie- und Armenvierteln vorbei, durch das schmale Tal zwischen Anden und Küstengebirge. Überall stehen Menschen am Bahndamm und winken, die Finger zum Siegeszeichen gespreizt, mit zustimmend nach oben gerichtetem Daumen, mit Fähnchen der Opposition in der Hand. Der Lokführer läßt die Pfeife im Takt der Sprechchöre ertönen. An den Bahnhöfen steigen immer mehr Frauen zu, werden mit großem Hallo begrüßt. Seit zwei Tagen schon sind Frauen aus dem äußersten Norden und Süden, aus Arica und Puntas Arenas, unterwegs, um rechtzeitig in Concepcion zu sein.

Alles begann damit, daß Patricio Aylwin und Gattin Anfang Oktober von einer Gruppe von Frauen aus einem der Armenviertel Santiagos eingeladen wurden, einmal das (Über)leben vor Ort mit eigenen Augen zu sehen. In einer Volksküche beim Bohneneintopf - ein typisches chilenisches Arme-Leute-Essen - schilderten die Frauen ihre Sorgen und Nöte. Aylwin bat sie, ihre Probleme und Lösungsvorschläge aufzuschreiben, um in seinem Regierungsprogramm fundierter auf ihre Situation eingehen zu können.

Dies war der Auftakt zur landesweiten Kampagne „El Chile que queremos“ (Das Chile, das wir wollen). In allen Regionen fanden sich Frauen in zahlreichen Veranstaltungen und Arbeitsgruppen zusammen, um über ihre alltäglichen Probleme zu diskutieren und Strategien für ein neues Chile zu entwerfen, das auch auf ihre Bedürfnisse eingeht. Im Koordinationsbüro, organisiert von der „Concertacion de Mujeres por la Democracia“ (Konzertierte Aktion der Frauen für Demokratie), trafen außerdem täglich zahlreiche Briefe ein, in denen Frauen über Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende Gesundheitsversorgung, schlechte, enge Wohnungen, über die Diskriminierung am Arbeitsplatz, in der Gesetzgebung, in der Familie, aber auch über ihre Wünsche und Hoffnungen schrieben. Nun, zwei Monate später, am 2.Dezember, sind Delegierte aus allen Teilen des Landes unterwegs nach Concepcion, um dem zukünftigen Präsidenten ihre Arbeitsergebnisse zu übergeben. Kandidatinnen stehen

kaum zur Wahl

Morgen, am 14.Dezember, sind die ChilenInnen zum ersten Mal nach 16 Jahren Diktatur zu freien Wahlen aufgerufen. Der Präsident und ein Parlament aus zwei Kammern werden gewählt

-wobei allerdings ein Teil der Abgeordneten von der bisherigen Regierung bestimmt wird. Drei Präsidentschaftskandidaten treten an: Hernan Büchi ist der Mann des Regimes, obwohl er seine Distanz zur Pinochet -Politik glauben machen möchte. Der Großunternehmer Fransisco Javier Errazuriz glänzt durch populistische Nullaussagen. In den letzten Tagen schickte er auch seine Frau „in den Ring“: Im Fernsehen bat sie das Wahlvolk mit Tränen in den Augen, ihren Mann durch ein Votum für seine Bemühungen um das Vaterland zu belohnen. Der Christdemokrat Patricio Aylwin ist der Kandidat der Opposition. Auf ihn haben sich die zerstrittenen Pinochetgegner nach langen Querelen geeinigt. Denn letztlich hat bei ihnen die Einsicht gesiegt, daß nur ein gemeinsamer Kandidat den ersten Schritt zu Demokratisierung des Landes möglich macht. Aylwin hat also die besten Chancen, neuer Präsident zu werden.

Die Erfolgsaussichten der Opposition und das nahende Ende der Militärdiktatur können jedoch über einen entscheidenden Makel der chilenischen Politik nicht hinwegtäuschen: Frauen sind in den führenden Positionen von Parteien und Volksbewegung kaum vertreten, obwohl sie mit 52 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung stellen und als Stimmvieh ausschlaggebend sind. Viele der massenhaft verteilten Flugblätter richteten sich daher ausdrücklich an die Frauen.

Doch in der Hauptstadt Santiago liegt der Anteil der Kandidatinnen für den Senat und das Abgeordnetenhaus nur bei 18,2 Prozent; wobei hier die Oppositionsparteien immerhin 31 Prozent Frauen ins Rennen schicken, die meisten jedoch auf aussichtsloser Position. Fürs ganze Land betrachtet sind die Zahlen noch kläglicher: Nur 7 Prozent aller 528 Kandidaten sind Frauen. Außerdem haben die Kandidatinnen in der Öffentlichkeit oft einen schweren Stand. In der linkspopulären Tageszeitung 'Fortin Mapocho‘ zum Beispiel wurden Kandidatinnen in billiger Manier zu ihrem Privatleben befragt. Bei der Christdemokratin Wilna Saavedra, Mitte 50, interessierte den Interviewer vor allem, warum sie nicht verheiratet ist und wie es in ihrem Leben bisher um die Liebe bestellt war. Von einer anderen Kandidatin wollte die Zeitung wissen, wie lange sie schon keinen Freund mehr hatte. Und das Peinlichste: Beide Frauen entschuldigten sich fast dafür, nicht verheiratet zu sein und beteuerten, Kinder selbstverständlich sehr gern zu haben.

Die Wahllisten spiegeln die Positionen der Frauen in den politischen Parteien. In zwei sozialdemokratische Parteien, PPD (Partido por la Democracia) und PS-Arrate (sozialistische Partei Arrate) konnten die Frauen Anfang diesen Jahres zwar eine 20 Prozent(!)-Quote für alle Parteiämter und -funktionen erstreiten. Die anderen Parteien lehnten dieses Ansinnen mit der Begründung ab, durch eine Quotierung würden Männer diskriminiert. Doch Quote hin, Quote her, auch die PPD hat letztlich nur zwei Kandidatinnen (6,4 Prozent) nominiert, fünf weitere unterlagen ihren männlichen Konkurrenten. Parteiloyalität vor Frauensolidarität

Adriana Munoz, eine der PPD-Kandidatinnen für Santiago, mußte zum Beispiel den Wahlkreis an ihrem Wohnort an einen Genossen abtreten, der eine starke Lobby hinter sich hatte. Sie tritt nun in Pudahuel an, einem Armenviertel, in dem sie als Intellektuelle wenig Chancen hat. Außerdem kennen sie die BewohnerInnen dort gar nicht. Ihr Konkurrent vom MIR lebt seit Jahren in Pudahuel und ist dort politisch aktiv. Von den Kandidatinnen der Opposition in Santiago kommt nur eine aus einem Armenviertel: Claudina Nunez. Das chilenische Wahlgesetz schreibt nämlich vor, daß eine Kandidatin oder ein Kandidat die mittlere Reife haben muß. In den Armenvierteln erfüllen aber nur wenige diese Bedingung. Vor allem Frauen, die bekanntlich weniger Bildungschancen haben und allenfalls die Hauptschule beenden, bleibt somit der Zugang zum Parlament verwehrt. Die meisten KandidatInnen sind Ärztinnen, Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, Rechtsanwältinnen ...

Adriana Munoz, 40 Jahre, ist Soziologin. Sie ist Mitgründerin des unabhängigen „Instituto de la Mujer“ (Fraueninstitut) und Mitglied im Frauenverband ihrer Partei. Und sie ist die einzige Kandidatin, die sich Feministin nennt. Dennoch hat Adriana Munoz weder von ihren Parteifrauen noch aus den Reihen der chilenischen Feministinnen nennenswerte Wahlkampfunterstützung erhalten. Letztlich hat sie sich auch kaum für Fraueninteressen sondern ausschließlich für ihre Partei engagiert. Auf den zahlreichen Veranstaltungen, die Frauengruppen vor den Wahlen organisierten, war sie fast nie zu sehen. Aber auch die anderen Kandidatinnen haben mit Frauenpolitik kaum etwas am Hut, obwohl die chilenische Frauenbewegung seit Jahren im „Demokratisierungsprozeß“ aktiv mitmischt und immer wieder über das Parteienhickhack hinweg nach gemeinsamen politischen Forderungen und Aktionen gesucht hat. Schließlich trafen sich am 8.März diesen Jahres mehr als 20.000 Frauen über alle ideologischen Gräben hinweg zu einer gemeinsamen Feier in einem Santiagoer Fußballstadion. Das Motto lautete damals: „Mit der Demokratie kann's nur was werden, wenn die Frauen dabei sind.“ Initiatorin war die „Concertacion de Mujeres por la Democracia“ - bekannte Frauen verschiedener Parteien, Gewerkschaften, sozialer Organisationen und Frauengruppen, die sich Ende 1988 zusammengeschlossen hatten. Das politische Spektrum folgte im wesentlichen der „Concertacion por la Democracia“ der 17 Oppositionsparteien. Ziel der Frauen-Pressure-Group: ein umfassendes Antidiskriminierungsprogramm zu erarbeiten und eine zukünftige demokratische Regierung darauf zu verpflichten. Erste Forderungen haben die Frauen bereits formuliert und der Opposition unterbreitet. (siehe Kasten).

Dennoch standen in der chilenischen Frauenbewegung eine gemeinsame Kandidatin oder gemeinsame frauenpolitische Wahlprüfsteine für die Wahlen nie zur Debatte. In der Stunde der Machtneuverteilung siegte wieder einmal die Parteiloyalität über die Frauensolidarität. Abtreibung - kein Thema

Der kommenden Demokratie blicken die meisten Frauen recht nüchtern entgegen. Vor allem die Frauen aus den Armenviertel sehen realistisch, daß sich für sie von heute auf morgen nicht viel verändern wird. Doch bei aller Skepsis hoffen sie auf eine Verbesserung, denn, wie eine Frau auf der Straße sagte: „Es besteht zumindest die Hoffnung, daß man sich in der Demokratie wenigstens über ein paar Dinge beschweren kann, ohne daß man Angst haben muß, Prügel zu bekommen oder ins Gefängnis gesteckt zu werden. Eine Bewohnerin aus einem Armenviertel erklärte: „Das einzige, was ich von der Demokratie erwarte, ist, daß mein Mann wieder eine Arbeit bekommt, bei der er sich wieder nützlich fühlt. Ich will kein neues Haus, ich will nur, daß diese elende Arbeitslosigkeit aufhört, daß er nicht immer zu Hause sitzt und nörgelt und unausstehlich ist. Das würde für mich viele Probleme lösen.“

Dabei müßte so vieles geändert werden. Wo aber anfangen? Da ist zunächst einmal die Verfassung, das Zivil- und Strafrecht, Fundament extremer Benachteiligung von Frauen. Im Eherecht zum Beispiel gilt bis heute die „Potestad Marital“, die Vormundschaft des Mannes über Frau und Kinder. Viele Frauen stehen mit ihren oft unehelichen Kindern allein da. Die Unterhaltsverpflichtungen müssen neu geregelt, uneheliche mit ehelichen Kindern gleichgestellt werden. Mutterschutz, Kindergeld, Wohnungen sind weitere Themen. Und natürlich die Gewalt in der Ehe, die bisher in der Öffentlichkeit noch weitgehend tabu ist.

Besonders aber ein Thema wurde auch im Wahlkampf der Opposition peinlichst vermieden: Die Abtreibung - in Chile bisher verboten und immer wieder bestraft, trotz Zehntausender illegaler Abbrüche jährlich. Um dieses heiße Eisen gab es in der Concertacion von Anfang an Konflikte. Aus taktischen Gründen wurde stillschweigend vereinbart, die Auseinandersetzungen darüber bis nach den Wahlen zu verschieben. Doch nicht immer wurden diese Abkommen von der Basis auch akzeptiert. Auf einer Wahlveranstaltung jüngst in Santiago forderte eine Teilnehmerin die anwesenden Kandidatinnen auf, zur Abtreibungsfrage Stellung zu beziehen. Die Christdemokratin Wilna Saavedra schwafelte etwas von Aufklärung und Veränderung der Lebensbedingungen, vom Leben, das bereits nach der Zeugung und nicht erst bei der Geburt begänne, räumte aber jeder das Recht auf eine eigene Meinung ein. Marta Melo, die die sozialistische Kandidatin Maria Helena Carrera vertrat, zog sich aus der Affäre, indem sie Sexualaufklärung für Männer forderte, die überall Kinder zeugten, ohne die Verantwortung zu übernehmen - und erntete damit lautes Gelächter. Sie forderte die gesetzlich festgeschriebene Unterhaltspflicht für Väter. Nur die kommunistische Kandidatin Claudina Nunez verlangte das Recht auf Abtreibung. Sie hat selbst einen Eingriff hinter sich und berichtete von der „entwürdigenden Situation, wenn du als Frau nach einem selbst provozierten Abbruch zum Arzt mußt und der sich als Richter aufspielt.“ Einheit nur vordergründig

Im Sonderzug nach Concepcion sitzen die Frauen in Grüppchen zusammen und schimpfen auf Pinochet. Aber die Einheit, die sie gegen den Diktator fordern, ist vordergründig. Sie singen Lieder über die Frauen und die Demokratie, aber sie sitzen und singen nach Parteien getrennt. Die Christdemokratinnen haben Angst, daß zwischen all den roten Fahnen ihre eigenen weißen Fähnchen untergehen. Es wird gemunkelt, daß „die Kommunistinnen“ (gemeint sind die Frauen der PPD) mehr Plätze im Zug ergattert hätten. Eine Sozialdemokratin gesteht, daß sie das Geschwätz der Christdemokratinnen nicht mehr hören könne. Und als der Zug in Concepcion ankommt und die Schlafplätze verteilt werden, lautet die Frage: Zu welcher Partei gehörst du? Damit die Gäste ja nicht bei den falschen Gastgeberinnen landen.