„Die Schere im Kopf ist einfach weg“

Der DDR-Jugendsender „dt 64“ fühlt sich nach der Wende „wie im Höhenflug“ / Einziges DDR-Medium, in dem die gesamte Führungsspitze geschaßt wurde  ■  Aus Ost-Berlin Vera Gaserow

„Aus welchem Kollektiv rufst du an, Günther? NVA Leipzig, aha, und was der Moderator da eben gesagt hat, hat dir nicht gefallen? Aber siehst du Günther, wir müssen doch lernen, streitbar zu sein.“ Rundfunk-Intendant Dietmar Ringel ist sichtlich um Verständigung mit seinem Telefonpartner bemüht. „Wenn ihr euch über die Äußerung unseres Moderators geärgert habt, schreibt eure Kritik auf. Wenn mehrere Beschwerden kommen, dann nehmen wir dazu über Sender Stellung. Mensch, versteh doch: ich muß mich erst einmal zurechtfinden. Ich bin doch erst seit ein paar Tagen Chef von diesem Laden.“

Der Laden“ ist ein Rundfunksender und heißt Jugendradio dt 64. Täglich sendet er auf 102,6 Megahertz von vier Uhr früh bis Mitternacht eine Mischung aus Politischem Magazin, Musik, Kultur, anspruchvollen Features oder Hörerservice. Unter den DDR-Medien gehörte dt 64 schon vor der „Wende“ zu den wenigen, die sich vom politischen Verlautbarungsjournalismus mit seinen „nicht endenwollenden Hochrufen“ auf die sozialistische Planerfüllung oder die internationale Solidarität abhoben, und war deshalb nicht nur bei Jugendlichen der Sender. Jugendradio war zwar das Hätschelkind vom Genossen Vorsitzenden Honecker, gleichzeitig aber auch die „freche Göre“ in der DDR -Medienlandschaft.

Jetzt hat die Göre ein absolutes Novum vollbracht, von dem auch die MitarbeiterInnen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Westen nur träumen können: als einziges DDR-Medium hat dt 64 nach der Wende seine gesamte Führungsspitze „geschaßt“. Während bei anderen Medien einzelne Köpfe ausgewechselt oder um 180 Grad gedreht wurden, mußte bei dt 64 die alte Riege vom Chefredakteur bis zur Intendantin geschlossen abtreten. Auf einer beinahe schon legendären Belegschaftsversammlung am 8.November hatten die rund 150 Beschäftigten des Senders ihrer Führungsspitze das Mißtrauen ausgesprochen - und die zog es angesichts der allgemeinen Stimmung vor, ihre Sessel lieber „freiwillig“ zu räumen.

Seitdem hängt im Amtszimmer des Rundfunkintendanten Che Guevara an der Wand, und auf dem Stuhl des Chefs sitzt „Dietmar“, mit 31 Jahren wohl jüngster deutscher Rundfunkintendant.

Warum gerade er? „Ehrlich gesagt, ich bin so etwas wie ein Kompromißkandidat, der mit dem Kollektiv zusammen nach dem richtigen Weg sucht“, lautet die Selbsteinschätzung von Intendant Ringel. Andere sagen, er habe einfach „das Vertrauen der Belegschaft“ gehabt. Und nicht zuletzt: der „Neue“ war vorher nie in Leitungsfunktionen, hat also eine „Weiße Weste“.

„Das jedoch stimmt nur bedingt“ urteilt Ringel über Ringel. „Ich hab mich auch mit Kompromissen zufrieden gegeben, die unserer Sache geschadet haben. Ich habe mich zwar in Fachdiskussionen eingemischt, aber mich dann immer den Entscheidungen von oben gebeugt. Bis vor zwei Monaten habe ich selbst noch an die Politik der kleinen Schritte, der kleinen Frechheiten geglaubt. Ich bin kein Vorprescher, aber einer, der Widerspruch duldet.“

Eigenverantwortliches Arbeiten nie gelernt

Dieses Zulassen von Widerspruch und fast grenzenlosen journalistischen Freiräumen ist es, was man in den Holzbaracken des „Funkhauses“ von dt 64 mitten im ödesten Industriegebiet Ost-Berlins am meisten schätzt. Eine größere Narrenfreiheit als andere Medien habe das Jugendradio immer schon gehabt, und „großartig geändert hat sich eigentlich nichts“, meint Nachrichenredakteurin Carmen vom Nachmittagsmagazin direkt. „Bei uns hat es keine Wende gegeben, wie bei der Akutellen Kamera oder beim ND, wo man sich nur verwundert den Kopf kratzen kann, wie einige Leute jetzt plötzlich schon immer Reformer waren“, sagen andere dt 64-Redakteure.

„Die Schere im Kopf, die seit der Kindheit da war, ist jetzt weg“, beurteilt Redakteurin Silke Bärhofer die neue Freiheit. Früher kam die „große Linie“ von der SED, die mit zentralen Weisungen in den Köpfen und im Sendeprogramm allgegenwärtig war. Nein, meint Silke Bärhofer, es seien gar nicht so sehr die Sanktionen von oben gewesen, die sie bisher an unabhängiger Arbeit gehindert hätten. Die Grenzen gab es zwar, und es gab auch die Grenzüberschreitungen, wie die Sendung über Ausländerfeindlichkeit in der DDR, die der (jüngst wieder rehabilitierten) Tanja Braumann die Stellung als Ressortleiterin kostete.

„Aber das eigentlich Schlimme war, daß du immer über drei Instanzen gehen mußtest, wenn du irgendetwas machen wolltest. Wir haben überhaupt nicht gelernt, eigenverantwortlich zu arbeiten. Und das war manchmal auch sehr bequem, man konnte prima die eigene Unfähigkeit verstecken“, meint Silke Bärhofer.

Eine Debatte darüber, wie sie als JournalistInnen und SED -Mitglieder tatkräftig zur Stabilisierung des alten Regimes beigetragen hatten, hat bisher auch bei den Jugendradio -MacherInnen nicht stattgefunden. „Ich selbst habe mir die Frage bisher eigentlich noch nicht gestellt“, gesteht Silke Bärhofer ein, die jetzt - obwohl nach wie vor Marxistin als eine der wenigen im Kollegenkreis aus der SED ausgetreten ist. „Im Prinzip muß das jeder mit sich selbst ausmachen, und zum Nachdenken ist jetzt gar keine Zeit. Wir müssen uns jetzt auch erst einmal qualifizieren. Wir hatten ja bisher gar kein journalistisches Selbstbewußtsein. Außerdem ackern wir im Moment von früh bis spät. Es arbeitet sich im Moment wunderbar. Erstmals bin ich vollverantwortlich - auch für meine Fehler. Ich frage jetzt auch viel offensiver nach. Das macht mich freier und lustiger. Ich lebe wie im Höhenflug.“

Stündlich neu orientieren

Auf diesen Höhenflug folgt manchmal jedoch auch der freie Fall, die Ohnmacht über eine Entwicklung, die die DDR derzeit überrollt. Silke Bärhofer: „Wir spüren, daß wir als Journalisten derzeit eine ungeheure Verantwortung haben. Aber man muß sich stündlich neu orientieren und soll dann darüber auch noch berichten. Dabei ist man selbst unsicher und weiß nicht so richtig, wohin die Karre läuft.“ Über journalistische Formen und neue, selbstgesetzte Grenzen zu diskutieren, dazu haben und nehmen die MacherInnen von dt 64 sich bisher noch keine Zeit. Fest steht nur, daß man „keine braune Kacke und tumbe Deutschtümelei“ senden will und sich in acht nehmen will vor einem Boulevard -Journalismus, der sensationslüstern jede nach „West“ glänzende Badezimmerarmatur eines SED-Funktionärs unter die Lupe nimmt.

Auch Jugendradio-Intendant Ringel hat vorerst andere Probleme als das journalistische Selbstverständnis. Er muß zusammen mit der Belegschaft eine neue Redaktionsleitung bestellen, die von den MitarbeiterInnen akzeptiert wird. Welche Kompetenzen er tatsächlich hat, möchte er selber „auch gern wissen“. Bis zur Festschreibung eines Mediengesetzes bewegt Ringel sich auch juristisch in einem Vakuum, in dem nicht einmal klar ist, wieviel er letztendlich verdienen wird, außer, daß es wahrscheinlich „beschämend viel ist“ (Ringel). Und mittem im kreativen Chaos ist da nicht zuletzt noch Günther, vom NVA-Kollektiv Leipzip, dessen Hörerprotest direkt zum Intendanten durchgestellt wurde. „Hör mal, da hat es mehrere Anrufe gegeben zu der Bemerkung des Moderators. Könnt ihr da nicht ein paar vermittelnde Worte sagen“, probiert Intendant Ringel sein Glück bei der verantwortlichen Redakteurin in der Sendezentrale. „Keine Chance“, erwidert die, „der Moderator meint, er steht zu seinem Kommentar“. - „So ist das wohl in der Demokratrie“, murmelt Dietmar Ringel in sich hinein und macht dann als Chef doch noch einen Vorstoß in das Studio hinein: „Wenigstens ein paar Worte, daß das nur deine persönliche Meinung war“. - „Okay, okay“, gibt der Moderator zurück, „ich überleg's mir noch mal“.