Keine Gerechtigkeit für die „Birmingham Six“

Seit über 15 Jahren sitzen die „Birmingham Six“ unschuldig in britischen Gefängnissen / Das britische Innenministerium hat soeben Hafterleichterungen für die sechs Gefangenen zugesichert / Keine Anzeichen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens / Der öffentliche Druck auf die britische Regierung wächst  ■  Aus Dublin Ralf Sotscheck

Am 21.November 1974 um 20.11 Uhr klingelte bei der 'Birmingham Post and Mail‘ das Telefon. Eine Stimme mit deutlichem irischem Akzent meldete sich, nannte das Codewort der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) und erklärte, daß seine Organisation zwei Bomben in der Innenstadt gelegt hätte: eine im 20stöckigen Rotunda-Hochhaus, die andere vor dem Finanzamt. Die Polizei, an die diese Warnung weitergegeben wurde, war nicht sonderlich überrascht, da die IRA-Bombenkampagne in England bereits seit Monaten in vollem Gange war. Noch während Polizeibeamte das Rotunda-Hochhaus durchsuchten, explodierte die erste Bombe in Mulberry Bush, einer Kneipe im Erdgeschoß - nur sechs Minuten nach der telefonischen Warnung. Die Explosion war in der 300 Meter entfernten Tavern Bar deutlich zu hören. Zwei Angestellte gingen auf die Straße, konnten jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken und kehrten wieder an ihre Arbeitsplätze zurück. Sekunden später flog auch die Tavern Bar in die Luft.

Das volle Ausmaß der Anschläge wurde erst Tage später bekannt: 21 Menschen waren tot, 162 verletzt. Es war das bislang schwerste Verbrechen in Großbritannien und löste Hysterie und eine anti-irische Pogromstimmung aus: Irische Kneipen, Schulen, Läden und ein Gemeindehaus gingen in Flammen auf, Iren wurden an ihren Arbeitsplätzen verprügelt, Waren von der Nachbarinsel boykottiert. Polizei und Justiz wurden durch diese aufgeladene Atmosphäre unter Druck gesetzt: Die Schuldigen mußten unbedingt gefunden und verurteilt werden. In einer 17stündigen Sondersitzung beschloß das britische Unterhaus weitreichende Notstandsgesetze zur Terrorismusbekämpfung, die bis heute gültig sind. Das Oberhaus brauchte für die Verabschiedung der Gesetze nur zwei Minuten.

Paddy Hill, Gerry Hunter, Johnny Walker, Richard McIlkenny und Billy Power befanden sich am Abend des 21.November in der Bahnhofskneipe und warteten auf den Zug nach Heysham. Von dort wollten sie die Fähre nach Belfast nehmen, wo ihr Bekannter James McDade beerdigt werden sollte. McDade hatte sich eine Woche zuvor in Birmingham mit einer Bombe selbst in die Luft gesprengt. Bis zu seinem Tod hatten die fünf Iren nichts von seiner IRA-Mitgliedschaft gewußt. Hugh Callaghan hatte das Geld für die Fahrt nach Belfast nicht auftreiben können. Er begleitete seine Freunde jedoch zum Bahnhof. Als die Bomben explodierten, waren die fünf Iren bereits unterwegs nach Heysham.

Dort endete ihre Reise. Sie wurden verhaftet, zum Polizeirevier in Morecambe gebracht und forensischen Tests unterzogen. Bei Hill und Power reagierte der „Greiss-Test“ positiv. Der Gutachter F. Skuse war überzeugt davon, Sprengstoffspuren an den Händen der beiden Iren nachgewiesen zu haben. Waren die Iren von den vernehmenden Polizeibeamten zunächst korrekt behandelt worden, wurden sie nun fast ununterbrochen verprügelt, bedroht, und schikaniert. Nach drei Tagen hatten vier von ihnen Geständnisse unterschrieben, in denen auch Callaghan belastet wurde. Die Geständnisse wiesen jedoch zahlreiche Ungereimtheiten auf. Weder stimmte die Anzahl der Bomben überein, noch die Angaben darüber, wer die Bomben in welcher Kneipe gelegt hatte. Darüber hinaus widersprachen die Aussagen in mehreren Punkten eindeutig den forensischen Erkenntnissen der Polizei. Das sollte den Angeklagten jedoch nichts nützen.

Als Richter Bridge nach 45 Verhandlungstagen die Erkenntnisse für die Geschworenen zusammenfaßte, stand das Urteil bereits fest. Bridge machte in seinen dreitägigen Ausführungen keinen Hehl daraus, daß er die Angeklagten für schuldig hielt. Entlastende Zeugenaussagen wischte er als „unbedeutend“ vom Tisch. Er verurteilte die sechs Iren aufgrund der „klarsten und überwältigendsten Beweise, die ich jemals gehört habe“, zu 21mal Lebenslänglich. Das Berufungsgericht räumte zwar ein, daß Bridge „unglücklicherweise etwas zu weit gegangen“ war, bestätigte jedoch das Urteil. Die Privatklage der „Birmingham Six“ gegen die prügelnden Polizeibeamten wurde abgewiesen. Lordrichter Dennings inzwischen berüchtigte Begründung lautete: „Falls die sechs Männer verlieren, hieße das, daß viel Geld für keinen guten Zweck verschwendet worden ist. Falls sie jedoch gewinnen sollten, würde das bedeuten, daß die Polizisten des Meineids, der Gewalt und Einschüchterung schuldig, die Geständnisse unfreiwillig und die Verurteilungen falsch wären. Das ist eine so entsetzliche Aussicht, daß jeder vernünftige Mensch im ganzen Land sagen würde: Es kann nicht richtig sein, daß diese Aktion weitergeht.“ - Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Erst 1985, elf Jahre nach dem Anschlag, gab es einen Hoffnungsschimmer für die „Birmingham Six“. Der Journalist und Labour-Abgeordnete Chris Mullin hatte in einer Fernsehsendung bewiesen, daß der „Greiss-Test“ völlig unzuverlässig ist. Die durch ihn nachgewiesenen Sprengstoffspuren können genausogut von Spielkarten, Lacken und einer Reihe anderer Stoffe stammen. Drei Tage nach der Fernsehsendung wurde der Gutachter Frank Skuse in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Mullin erschütterte das Urteil noch weiter. Nach monatelangen Nachforschungen hatte er über Kontaktleute die wirklichen Bombenleger aufgespürt, die unbehelligt in der Republik Irland leben. Mit einem der IRA-Mitglieder sprach Mullin vier Stunden lang und erfuhr Einzelheiten, die nur den Tätern bekannt sein können. In seinem Buch Error of Judgement (Poolbeg Press, Dublin 1987) schreibt Mullin: „Ich zeichnete eine grobe Skizze der Kneipe und bat ihn, den Punkt zu markieren, wo er die Bombe plaziert hatte. Ohne zu zögern, kennzeichnete er einen Punkt am hinteren Ende der Kneipe. Es ist schwer zu verstehen, wie jemand, der unmöglich Zugang zu den forensischen Prozeßakten haben kann, den Ort so genau markieren kann, an dem die Bombe plaziert war - es sei denn, er war dabei.“

Das Verfahren gegen die „Birmingham Six“ wurde jedoch erst im November 1987 wiederaufgenommen, nachdem Komitees und viele Prominente unermüdlich dafür gekämpft hatten. Während des Prozesses gelang es der Verteidigung, die beiden Eckpfeiler der Anklage ins Wanken zu bringen. Die Ex -Polizistin Joyce Lynass widerrief ihre nur vier Tage zuvor gemachte Aussage und gab zu, daß die Angeklagten im Polizeigewahrsam verprügelt wurden. Auf die Frage, warum sie das nicht gleich gesagt habe, erklärte sie, daß sie und ihre Familie von anonymen Anrufern bedroht worden seien. Gutachter Skuse verstrickte sich im Zeugenstand so offensichtlich in Widersprüche, um seinen ruinierten Ruf zu retten, daß es selbst den Richtern Angst und Bange wurde. Dennoch lehnte das Gericht Anfang 1988 die Freilassung der „Birmingham Six“ ab. Die Aussage der Polizistin Lynass wurde nicht berücksichtigt: Da eine ihrer beiden Aussagen mit Sicherheit falsch sei, habe sie sich selbst diskreditiert.

In diesem Sommer schöpften die sechs Iren neue Hoffnung. Das britische Innenministerium mußte auf Mullins Anfrage zugeben, daß die West-Midlands-Polizei, die für die Verhöre der „Birmingham Six“ verantwortlich war, in späteren Fällen gewaltsam Geständnisse erzwungen habe. Die betroffenen Angeklagten mußten daraufhin freigesprochen und entschädigt werden. Die West-Midlands-Einheit wurde inzwischen aufgelöst, die Beamten auf andere Einheiten verteilt. Die vom Innenministerium angeordnete öffentliche Untersuchung gegen die prügelnden Polizisten beschäftigt sich jedoch nur mit nach 1980 aufgetretenen Fällen. Doch der Druck auf die britische Regierung wächst. Letzte Woche gestand das Innenministerium ein, daß nicht nur ein Beamter der aufgelösten West-Midlands-Einheit, sondern vier Polizisten an den Verhören der „Birmingham Six“ vor 15 Jahren beteiligt waren.

Die Freilassung der „Guildford Four“ hat gezeigt, daß öffentlicher Druck durchaus Erfolg haben kann. Doch die britische Gerichtsbarkeit tut sich schwer: Sollte den „Birmingham Six“ späte Gerechtigkeit widerfahren, so wären die nach dem Attentat von Birmingham verabschiedeten Sondergesetze zur Terrorismusbekämpfung diskreditiert, die seither der Polizeiwillkür Tür und Tor geöffnet haben. Ein Journalist sagte während des Prozesses gegen die „Birmingham Six“ vor zwei Jahren: „Es ist wie bei einem Boxkampf im Ring des Gegners mit Heimschiedsrichtern. Ein Punktvorsprung nützt dir gar nichts, du mußt k.o. gewinnen.“