Nationale Identitiät

■ Von den Schinken der Historienmalerei zur Blödsinnigkeit des Patriotismus

William Makepeace Thackeray

Wie beruhigend ist es doch, wenn man sich vorstellt, daß es Grund zu der Annahme gibt, daß die Maler in Zukunft wohl nur noch wenige Schlachtenbilder malen werden. Alle großen Siege sind bereits behandelt worden und Versailles ist ohnehin fast voll. In diesem Jahr werden zu meiner großen Freude nur ein paar Meter martialischer Leinwände ausgestellt und nicht mehr die endlosen Meilen, die man sich in früheren Ausstellungen anschauen mußte. Ein Rückzug von Moskau ist darunter und ein Sturm auf El Gibbet oder El Arish oder einen von diesen Orten in Afrika. Im letztgenannten Bild sieht man tausend Burschen in weiten roten Hosen einen Hügel hinaufrennen, auf dem niederträchtige, heidnische Türken stehen und Kanonen, Karabiner und alle möglichen anderen Waffen auf sie abfeuern. Das Ganze hat Monsieur Bollange sehr schön gemalt, und der Ansturm der roten Hosen hat eine merkwürdige, durchaus angenehme Wirkung. Auf dem russischen Bild sieht man erfrorene Männer und Vieh; Mütter umarmen ihren Nachwuchs; Grenadiere schauen finster auf den Feind, ganz besonders ein Bursche, der auf einem Hang steht und in Erwartung des Angriffs bereits sein Bajonett erhoben hat und tatsächlich von einem ganzen Regiment Kosacken attackiert wird - ein ganzer Pulk, meine verehrte Dame, der in drei Reihen gestaffelt mit erhobenen Lanzen auf diesen furchtbaren französischen Krieger zukommt. Ich glaube, Monsieur Thiers hat für diesen Mann Porträt gesessen, oder vielleicht der Herausgeber des 'Courrier Fran?ais‘ - das sind die beiden kriegslustigen Männer dieser kriegslustigen Nation. Apropos Thiers: In den Nouvelles a la Main gibt es eine schöne Geschichte über diesen kleinen Möchtegern -Napoleon. Als der zweite Sohn des Herzogs von Orleans geboren wurde (der Titel seiner Königlichen Hoheit ist mir entfallen), wurde Monsieur Thiers die Nachricht überbracht. Man sagte ihm, die Prinzessin sei wohlauf, und er fragte den Kurier, der die Nachricht überbracht hatte: „Comment se portait le Roi de Rome?“ Im Vertrauen gesagt, ist an der ganzen Geschichte natürlich kein einziges wahres Wort. Aber was macht das schon? Sind nicht erfundene Geschichten genauso gut wie wahre? Fragen Sie Monsieur Leullier, der trotz der vielen Dinge, die über eine gewisse Seeschlacht bereits gesagt und geschrieben wurden, in diesem Jahr doch tatsächlich ein neues Werk publiziert hat: „1311. Heroisme de l'Equipage du Vaisseau le Vengeur, 4Juin, 1794“.

„Apres avoir soutenu longtemps un combat acharne contre trois vaisseaux Anglais, le vaisseau le Vengeur avait perdu la moitie de son equipage, le reste etait blesse pour la plupart: le second capitaine avait ete coupe en deux par un boulet; le vaisseau etait rase par le feu de l'ennemie, sa mature abattue, ses flancs cribles par les boulets etaient ouverts de toutes parts: sa cale se remplissait a vue d'oeil; il s'enfon?ait dans la mer. Les marins qui restent sur son bord servent la batterie basse jusqu'a ce qu'elle se trouve au niveau de la mer; quand elle va disparaitre, ils s'elancent dans la seconde, ou ils repetent la meme manoeuvre; celle-ci engloutie, ils montent sur le pont. Un tron?on de mat d'artimon restait encore debout; leur pavillons en lambeaux y sont cloues; puis, reunissant instinctivement leurs volontes en une seule pensee, ils veulent perir avec la navire qui leur a ete confie. Tous, combattants, blesses, mourants se raniment: un cri immense s'eleve, repete sur toutes les parties du tillac: Vive la Republique! Vive la France!... Le Vengeur coule... les cris continuent; tous les bras sont dresses au ciel, et ces braves, preferant la mort a la captivite, emportent triomphalement leur pavillon dans ce glorieux tombeau.„

(France Maritime)

Ich glaube, Mr.Thomas Carlyle hat die löbliche Angewohnheit, Lügen manchmal als Windbeutel zu bezeichnen. Nun hätte man meinen können, dieser Windbeutel sei bereits im letzten Jahr geplatzt; aber nichts dergleichen. Man kann ihn einfach nicht versenken, egal wie man es auch anstellt; er kommt immer wieder zurück an die Oberfläche, wo er weiterschwimmt und zur allgemeinen Bewunderung auf und ab tanzt. Diese Lüge glaubt der Franzose nur allzu gerne; alle Zeitungen sind voll von dieser Geschichte mit der Vengeur, als sei es eine erwiesene Tatsache; und ich habe gehört, daß irgendwelche Künstler die Sache neulich zu einem durchaus befriedigenden Abschluß gebracht haben. Man hat immerhin die Genugtuung, auf allen französischen Gesellschaften, wo man sich über diese Angelegenheit unterhält, die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat (oder wenn gerade nicht darüber gesprochen wird, die Unterhaltung auf dieses Thema zu lenken und dann die wahren Vorgänge zu berichten). Dieses Vergnügen hat man also immerhin, und es ist in der Tat ein großes, unverschämt dankbares Vergnügen, denn die gesamte Gesellschaft beginnt sich sofort unwohl zu fühlen. Man erzählt die Geschichte in ruhigem, entspanntem, leidenschaftslosem Ton, und während man so erzählt, sieht man, wie sich die einzelnen Zuhörer unsichere Blicke zuwerfen und hin und wieder in ein „Mais cedependant“ ausbrechen. Man erzählt aber gelassen weiter, ohne sich im geringsten beirren zu lassen, und hat dabei die Genugtuung zu wissen, daß man damit jedem einzelnen von ihnen einen Messerstich genau ins Herz versetzt hat.

Als diese Geschichte, wie gesagt, einigen Künstlern erzählt wurde, die gerade Monsieur Leulliers Gemälde betrachteten und ich bin ziemlich sicher, daß noch eine ganze Reihe anderer Zeugen der Unterhaltung waren -, antwortete einer von ihnen auf meine Vermutung, daß die Briefe von Kapitän Renaudin noch existierten und die ganze Angelegenheit doch wohl Unsinn sei, mit folgenden Worten:

„Sir“, sagte er, „der Untergang der Vengeur ist eine bewiesene geschichtliche Tatsache. Der sichere Beweis findet sich in den damals veröffentlichten Dokumenten; und was die Briefe von Kapitän Renaudin betrifft, die Sie erwähnt haben, wurden nicht neulich von einer der hiesigen Zeitungen einige angebliche Briefe Louis Philippes abgedruckt? Und was waren diese Briefe, Sir? Fälschungen!

Quod erat demonstrandum. Alle sagten, daß der Sansculotte recht hätte, und ich habe keinen Zweifel, daß, wenn die gesamte Mannschaft des Vengeur von den Toten auferstehen sollte und jener englische Boots- und Steuermann, der als letzter an Bord des Schiffes war (Der Autor hörte von diesem Mann von einem englischen Marinekapitän, der ihn an Bord seines Schiffes gehabt hatte), das er und seine Kameraden in Besitzt hatten, und um sein Leben schwimmen mußte, an die Öffentlichkeit treten und die wahre Geschichte beschwören würde, dann zweifelte ich, wie gesagt, nicht daran, daß die Franzosen ihm keinen Glauben schenken würden. Ich kenne nur einen einzigen, meinen Freund Julius, der, seit er die Geschichte zum ersten Mal hörte, sie in aller Ohren und in allen Gesellschaften verbreitet hat und mir versichert, er sei schon ganz heiser vom vielen Erzählen.

Was nun Monsieur Leulliers Gemälde betrifft, so ist in der Tat sehr viel Gutes darin - Burschen, die sich umarmen, und andere, die Hände und Augen gen Himmel richten, und in der Ferne ein englisches Schiff mit einer Besatzung von Rotröcken, die das dem Untergang geweihte Schiff beschießen. Vielleicht sollen sie nur Seesoldaten darstellen, aber da ich einmal in einem Theaterstück mehrere englische Marineoffiziere in Stulpenstiefeln gesehen habe, könnte es sein, daß man in Frankreich glaubt, unsere Marine sei ebenso wie unsere Armee mit roten Uniformen ausgestattet. Ein weiteres schönes Thema für ein Historienbild wäre Cambronne mit seinem Ausspruch: „La garde meurt, mais ne se rend pas.“ Ich habe mir ein paar Stiche von dem Vengeur und von Cambronne gekauft und würde mich freuen, eine kleine historische Sammlung von ähnlich verbürgten Tatsachen anzulegen.

Verflucht seien alle roten oder blauen Uniformen, sage ich, alle ihr Epauletten und Säbeltaschen, all ihr Flinten, Schrapnells und Musketen, all ihr mit den blutigen Erinnerungen an siegreiche Kämpfe bestickten seidenen Banner - nieder! Nieder in den bodenlosen Abgrund mit euch allen! Laßt ehrliche Menschen miteinander leben und einander lieben ohne euch! Welches Recht habe ich beispielsweise, mich mit Federn zu schmücken, weil der Herzog von Wellington die Franzosen in Spanien und anderswo geschlagen hat, mich beim Lesen dieser Geschichten zu begeistern und mich für einen Abkömmling heldenhafter Vorfahren zu halten, nur weil mein Onkel Tom an der Schlacht von Waterloo dabei war und wir damals Napoleon geschlagen haben? Wer sind wir denn, in Dreiteufelsnamen? Haben wir je in unserem Leben wirklich gekämpft? Haben wir auch nur die geringste Neigung, uns gegenseitig zu bekämpfen und zu ermorden? Warum soll sich dieser Haß von Generation zu Generation fortsetzen und unsere kleine Brust von absurdem nationalem Dünkel schwellen, warum sollen wir vor unseren Nachbarn prahlen und triumphieren und uns auf ein neuerliches Handgemenge mit ihnen freuen? Schon Aristoteles hat gesagt, daß es im Krieg immer zwei Parteien gibt, und obwohl es vorkommt, daß beide sich zum Sieger erklären, so ist es doch im allgemeinen eher so, daß die eine Partei gewinnt und die andere verliert. Der Sieger wird dadurch von nationalem Stolz erfüllt, während der Besiegte einen nationalen Haß entwickelt und sich vornimmt, es das nächste Mal besser zu machen. Wenn er dann seine Rache bekommt und den Gegner wie gewünscht schlagen kann, dann stellen sich die umgekehrten Gefühle ein, und so nehmen Stolz und Haß immer weiter zu in saecula saeculorum, werden Bänder und Orden verliehen, und große Männer wachsen heran und machen Karriere. „Denkt daran, daß ihr Briten seid!“ ruft unser General. „Dort steht der Feind, zum Teufel mit ihm und gebt ihm das Bajonett!“ Hurra! Durcheinander, Laden und Feuern, Hiebe und Stiche - da fallen sie. „Soldats! dans ce moment terrible la France vous regarde! Vive l'Empereur!“ ruft Jacques Bonhomme, und schon sticht er einem das Schwert zwischen die Rippen. „Kinder!“ brüllt Feldmarschall Sauerkraut, „Männer von Hohenzollern -Sigmaringen! Denkt daran, daß die Augen des Vaterlandes auf Euch gerichtet sind!“ - und wieder ist das Ergebnis ein großes Morden. Mit dem gleichen Kriegsgeschrei stürzt sich Tomahee-tereboo auf die Ashantis, und alle verzehren ihre Gefangenen in echt patriotischem Kannibalismus.

So geht die große Wahrheit vom Vater auf den Sohn weiter, daß Ein Brite Ein Franzose Ein Ashanti Ein Hohenzollern-Sigmaringer der ganzen Welt überlegen is

Auf diese Wahrheit schwören die Einfaltspinsel der jeweiligen Nation, und nach ihr regieren ihre Staatsmänner.

Übersetzung: Hans Harbort

Fraser's Magazine, July 1841