Gysi: Fragen Sie Ihre Demonstranten

SED-Chef Gysi: „Deutsche haben kein Recht, mit Grenzveränderungen zu beginnen“ / Vertragsgemeinschaft mit BRD muß Souveränität der beiden Staaten respektieren / Ohne Paß bei Westberliner Juristen  ■  Von Petra Bornhöft

Berlin (taz) - Den Schalk im Nacken, einen Elbsegler auf dem Kopf und einen viel zu großen Koffer in der Hand - so marschierte der neue SED-Vorsitzende Gregor Gysi am Dienstag abend auf zwei Veranstaltungen. Ob vor der Weltpresse in Ost -Berlin oder vor Richtern und Staatsanwälten der ÖTV in West -Berlin, souverän verteidigte Gysi die Souveränität der DDR.

Deren Respektierung markiere die Grenzen der von der SED angestrebten Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik, sagte Gysi. Unter Vertragsgemeinschaft verstehe er, „unabhängig von weiterer Konkretisierung, Verträge über wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit, die den Menschen nützt“. „Das führt zu konföderativen Strukturen, ok“, aber zu dem staats- und völkerrechtlichen Begriff Konföderation wollte er sich nicht äußern: „Das ist mir viel zu ungenau. Jeder der dieses Wort benutzt, versteht darunter etwas anderes. Mir sollen erst mal diejenigen, die davon sprechen, erklären, was sie damit meinen, dann werde ich mich dazu verhalten.“ Eindeutig hingegen die Ablehnung einer Wiedervereinigung.

Von der Eigenständigkeit und Souveränität der DDR hänge die Stabilität in Europa ab. „Grenzveränderungen an einer Stelle in Europa kann zu gefährlichen Diskussionen über andere Grenzen in Europa führen. Gerade wir als Deutsche haben nicht das Recht, mit Grenzverschiebungen in Europa zu beginnen“. Ferner beabsichtige die SED, Staatlichkeit abzubauen, und da erscheine ihm eine Diskussion über neue Staaten widersinnig. Den jetzt eingeschlagenen Weg des demokratischen Sozialismus - in West-Berlin sprach Gysi von einer „linken Alternative zur BRD“ - „können wir nur gehen, wenn wir eine selbständige DDR haben“.

Die Entscheidung darüber in der DDR fällt nach seiner Ansicht mit dem Volksentscheid über die Verfassung im kommenden Jahr. „Da entscheidet das Volk auch, ob es diese DDR will.“ Nachfrage eines Journalisten: „Wer die Wiedervereinigung will, lehnt die Verfassung ab?“ „Selbstverständlich, das ist doch wohl logisch.“

Über den Ausgang dieser Abstimmung zeigten sich Gysi und sein Stellvertreter, der Dresdener OB Berghofer, optimistisch. Meinungsumfragen hätten ergeben, daß die Mehrheit in der DDR eine Eigenstaatlichkeit befürworte. Dagegen hielten Journalisten anderslautende Ergebnisse einer Umfrage unter Teilnehmern einer Leipziger Montagsdemonstration, bei der übrigens nach Angaben von Beobachtern Aufkleber der West-CDU für die Parole „Wir sind ein einig Volk“ warben. Gysi lächelte und empfahl den Fragern: „Befragen Sie doch mal die Demonstranten bei Ihnen. Ich bin sicher, Sie bekämen dann interessante, ungewohnte Mehrheiten.“ Er halte diese „Methode nicht für zulässig“.

Berghofer erklärte Demonstrationen für „zeitgemäß“, verwies aber darauf, daß „die Mehrheit der DDR-Bevölkerung abends zu Hause sitzt“. Den Totalabriß der Mauer zählt die SED nicht zu ihren brennendsten Problemen. Reisefreiheit - Gysi freute sich, daß er gar trotz vergessenen Passes die Grenze überqueren konnte - und Häuserbau seien wichtiger. Allerdings sei die SED dafür, daß „beide Berlins zu einer kulturellen Drehscheibe in Mitteleuropa werden. Hilft Ihnen das weiter?“

Abschließend erheiterte Gysi die Journalisten mit einer Ohrfeige für SPD-Chef Vogel, der tags zuvor die langjährige Beziehung zur SED für beendet erklärt hatte. Gysi: „Wenn es so ist, daß Herr Vogel mit den früheren Generalsekretären besser zurecht gekommen ist als mit den neuen Parteigremien, muß ich das zur Kenntnis nehmen. Ich glaube nicht, daß es sein letztes Wort bleiben wird. Er unterschätzt unsere Kraft zur Erneuerung und vielleicht auch den Grad der politischen Verantwortung der SED.“

Vor den Westberliner Juristen folgte ein Plädoyer für differenzierte Analysen und Reformen des DDR-Rechtssystems. Nicht alles müsse geändert, geschweige denn von der BRD übernommen werden. Das „politische Strafrecht“ müsse weg. Ähnlich wie in der BRD seien auch in der DDR Amtspersonen immer stärker geschützt gewesen als die Bürger. Das werde keinen Bestand haben. Die in der BRD gegebene Möglichkeit des Verteidigerausschlusses per Gericht lehnt Gysi ebenso ab wie die westdeutschen restriktiven Regelungen über Prozeßkostenhilfe. „Die Bürger sollen nicht an der Unbezahlbarkeit eines Prozesses scheitern.“

In Anspielung auf die bereits tätigen Immobilien -Spekulanten wollte jemand wissen, ob es sich lohne, das DDR -Immobilienrecht zu studieren, antwortete Gysi: „Es lohnt sich immer, das DDR-Recht kennenzulernen. Wenn Sie damit die Hoffnung verbinden, daß wir unser Territorium hergeben, dann hoffe ich auf eine große Enttäuschung.“

Unmittelbar enttäuschte der SED-Chef einen jener unzähligen Stalinismus- und Stasi-Opfer, die auf vergleichbaren Veranstaltungen immer wieder verlangen, ihre Akten aus den Stasi-Bunkern einsehen zu können. Gysi empfahl, einen Ost -Anwalt einzuschalten.