Wie ein Skandalfilm entsteht

■ „Der letzte Tango in Paris“ auf SAT.1

Hätte Bernardo Bertolucci die Rolle des Paul wie ursprünglich geplant mit Jean-Louis Trintignant statt mit Marlon Bando besetzt - Der letzte Tango in Paris wäre, soviel darf ohne Spekulation behauptet werden, ein ganz anderer Film geworden. Für Georg Seeßlen und Claudius Weil ist dieser Paul eine Inkarnation des alternden US-Stars, die „gleichsam vorführte, was aus seiner Gestalt aus seinen früheren Filmen geworden sein könnte“. Tatsächlich hatte Bertolucci bezüglich des Charakters seiner männlichen Hauptfigur nur eine Regieanweisung für den amerikanischen Schauspieler: Er solle einfach sich selber spielen.

Für den weiblichen Gegenpart des Amerikaners in Paris fand Bertolucci die erst 20jährige Maria Schneider unter etwa hundert Schauspielerinnen, die sich beim Casting um die Rolle bewarben. Auch für die Rolle der Jeanne hatte der italienische Regisseur ursprünglich eine andere Darstellerin engagieren wollen, nämlich Dominique Sanda, die gemeinsam mit Trintignant schon für Der große Irrtum (Il conformista) unter seiner Regie gearbeitet hatte. Wegen ihrer Schwangerschaft hatte Dominique Sanda das Angebot ablehnen müssen.

Als Drehort wählte Bertolucci die frühere Wohnung von Orson Welles in Passy, einem Vorort von Paris. Während der Dreharbeiten improvisierte er großenteils; er sah seinen Film in der Tradition Jean Rouchs und des cinema verite. Ein zwanzigminütiger Ausschnitt des Films gelangte vorzeitig an die Öffentlichkeit, weil Bertolucci sich an einem Gegenfestival gegen die Internationalen Filmfestspiele von Venedig, organisiert von jungen italienischen Regisseuren, beteiligte. Das kleine Alternativfestival stand nicht gerade im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit, aber in Randnotizen italienischer Filmjournalisten tauchte schon mal die Bemerkung auf, daß man bei Bertoluccis neuem Film wohl mit einem Verbot durch die Zensur rechnen müsse.

Die echte Weltpremiere fand im Oktober 1972 auf dem New Yorker Filmfestival statt. Schon vor der Präsentation kursierten Gerüchte über freizügige Szenen und trieben die Schwarzmarktpreise für die Eintrittskarten in die Höhe. Besondere Brisanz bekamen solche Ankündigungen natürlich wegen der Mitwirkung des Hollywood-Stars Marlon Brando, der gerade mit Coppolas Der Pate ein glanzvolles Comeback als Schauspieler gefeiert hatte. Zweifellos hatte die Uraufführung schon vorab Ereignischarakter.

Die Reaktionen von Publikum und Presse reichten von leidenschaftlicher Ablehnung bis zu begeisterter Zustimmung. Gleich nach der Weltpremiere versuchten der Regisseur und einige italienische Journalisten, den Film gegen die Zensur ihres Heimatlandes in Schutz zu nehmen; das Verbot von Pasolinis Canterbury Tales lag noch nicht lange zurück.

Noch aber war der Film nicht im Verleih. Eine mehr als zustimmende Kritik der renommierten Autorin Pauline Kael weckte die Neugier ihrer Kollegen und des Kinopublikums, ein Pfund, mit dem die Werbeabteilung der Verleihfirma United Artists unverzüglich zu wuchern begann. Statt wie üblich Pressevorführungen zu organisieren, baute sie einen künstlichen Mythos um Der letzte Tango in Paris. Informationen über den Film wurden nicht nur zurückgehalten, sondern nachgerade unterdrückt. Die Öffentlichkeit wartete begierig auf diesen Film, die geschickte Kampagne heizte die Stimmung immer weiter auf, die sich schließlich im gewünschten Ausmaß entlud: In Amerika und Europa war der Film nach dem Start Tagesthema. Als Sexreißer und Skandalfilm publizistisch ausgeschlachtet, geriet er zur Sensation der Boulevardpresse. Florian Hopf schrieb über die Auswirkungen auf die Zuschauer: „Der Öffentlichkeit ist der Blick auf den Film bereits verstellt, ehe sie die Chance hat, ihn zu sehen.“

Drastisch verstellt wurde der Öffentlichkeit verschiedener Länder der Blick auf den Film durch diverse Zensurmaßnahmen. In Italien und Großbritannien mußten einzelne Szenen geschnitten werden. Trotzdem verklagte ein ehemaliger Abgeordneter den britischen Chefzensor Steve Murphy mit der Absicht, die Verbreitung dieses und weiterer Film zu verhindern. Die spanischen Behörden verboten den Tango gleich ganz, was Busunternehmen nahe der Grenze zu Frankreich ein lukratives Geschäft ermöglichte: Sie karrten Tausende von Neugierigen zu französischen Kinos. Im kleinen Filmtheater von Perpignon lief der Film sechs Stunden hintereinander ohne Pause, um des Andrangs Herr zu werden. Der Ruf des Skandalfilms begleitete den letzten Tango noch lange Zeit und bescherte ihm zahllose Wiedereinsätze in den Repertoirekinos. Film in Kombination mit freizügigen Szenen geht hier besonders gut, denn auch wenn das intellektuelle, akademische oder bildungsbürgerliche Publikum die Niederungen der Bahnhofskinos scheut, einen Blick riskieren möchte es schon gelegentlich.

17 Jahre nach der Uraufführung ist das kein Problem mehr, denn SAT.1 liefert den aus heutiger Sicht doch recht harmlosen „Sexschocker“ jetzt frei Haus.

Harald Keller

Der letzte Tango in Paris, 23.15 Uhr, SAT.1