Leben auf Leichenbergen

■ Irene Disches Erzählband „Fromme Lügen“

Zufällig wie die Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, beschrieb einst Lautreamont sein poetisches Prinzip, das später zur Formel einer ganzen Kunstrichtung, des Surrealismus, wurde. Ein Seziertisch ist es auch, der in der Titelgeschichte von Irene Disches Erzählband Fromme Lügen gleichsam den zentralen Treffpunkt darstellt - doch das ist auch schon alles, was diese Geschichten mit dem Surrealen gemein haben. Was sich dort trifft, begegnet sich weder zufällig, noch handelt es sich um Nähmaschinen oder dergleichen. Es sind Juden und Katholiken, deren fromme Lügen die Autorin auf eine Art seziert, die der heißen Phantastik des Surrealismus diametral entgegengesetzt ist: mit einer Kühle, die an die Temperatur eines Leichenschauhauses gemahnt.

Daß es schaurig zugeht in diesen Geschichten, liegt aber nicht nur an der kühlen Distanz, mit der Irene Dische ihre Antihelden zeichnet - die tatsächlich die ihren sind, denn sie ist als deutsche Jüdin in Amerika aufgewachsen und katholisch erzogen worden

-, es liegt vor allem an dem, was hinter all diesen gläubigen Falschspielern liegt: dem Horror des Holocaust.

Wie es sich angesichts dieses Leichenbergs leben läßt, als Deutsche im Amerika der 50er Jahren oder als Jude in der Bundesrepublik der 80er Jahre, davon handeln die zwei markantesten Erzählungen dieses Bands, Eine Jüdin für Charles Allen und Fromme Lügen. Hier gelingt Irene Dische etwas ziemlich Seltenes: Sie spricht ein todernstes Thema gelassen aus, mit Verstand und Humor, und sie beschreibt den Sumpf der falschen Moral, ohne mit erhobenem Zeigefinger selbst darin unterzugehen.

In der ersten Geschichte kommt der katholisch gewordene Charles Allen in das Berlin unserer Tage und verstrickt sich im Nachlaß seines jüdischen Vaters: in die Ränke eines Antiquitätenladens und seiner Geschäftsführerin Esther. Der Laden stellt sich schnell als Hehler- und Schieberbude heraus, doch der kreuzbrave Erbe spielt das Spielchen mit, denn er begehrt Esther, die dem örtlichen Rabbi gerade mal wieder ein riesiges Kontingent überteuerter Kerzen andrehen will und in der Gemeinde für einen Kerzenumzug zum Gedenken an die „Kristallnacht“ trommelt. Zu Episoden wie dieser glaubten einige Kritiker anmerken zu müssen, sie schürten das antisemitische Vorurteil vom schachernden Juden - zu einem solchen Schluß kann freilich nur kommen, wer diese Geschichte nicht zu Ende und die anderen überhaupt nicht liest, offenbart sich doch am Schluß diese Esther als ebenso falsch wie die Antiquitäten, die sie verhökert: Die 150prozentige Jüdin hatte sich diese Identität nur übergestülpt.

Das Pendant zu dieser Fake-Jüdin ist der bärbeißige Großvater in der letzten Geschichte des Buchs, der nach dem Tod seiner Frau den Enkeln das TV verbietet, täglich vor der toten Mattscheibe betet und bei seiner Enkeltochter einen furchtbaren Verdacht weckt: daß es sich bei ihm um Adolf Hitler handelt, von dessen Überleben sie im 'National Inquirer‘ gelesen hat. Der Freund ihrer Mutter, dem das Kind davon erzählt, beginnt, die streng katholischen Sprüche, die Amerikabegeisterung und den Antisemitismus des Großvaters in dieser Lesart zu interpretieren, halbherzig zuerst und dann mit psychoanalytischer Akribie, und kommt zu dem Ergebnis, daß die Kleine recht hat. Den Presseskandal überlebt der Alte nicht, ihn trifft der Schlag. Seine eigene fromme Lüge hat ihn eingeholt: Als Jude hat er sich vor den Nazis in Österreich als strenger Katholik getarnt und diese Tarnung nach der Auswanderung in die USA nicht nur beibehalten, sondern auch verinnerlicht - bis hin zu Haßtiraden auf seinen jüdischen Schwiegersohn.

Die Pointen zu verraten, wie ich es hier getan habe, mag bei den meisten Erzählungen als grobe Verletzung der Rezensentenpflicht erscheinen, für Irene Disches Geschichten aber gilt das nicht. Sie sind so cool und sarkastisch und gleichzeitig mit soviel Witz und Herz geschrieben, daß die gesamte Lektüre erfrischt und belebt - und nicht nur die kalte Dusche am Schluß.

mbr

Irene Dische: Fromme Lügen. Andere Bibliothek, Eichborn -Verlag, 295 Seiten, 32 DM