Gemeinde vor Anerkennung

Selbst unterm Einheitsputz fällt das Gebäude noch auf, neben all den Häusergreisen der Tucholskystraße im Berliner Scheunenviertel: ein zweiflügliges Haus mit Kreuzgewölbe und runden Fensterbögen. Eine Holz- und Papier-Export -/Importfirma wirkt im vierten Stock, darunter eine „Gesellschaft für Werbung und Auslandsmessen der DDR“. Eigentümer der Tucholskystraße 40 ist der Staat. Genauer gesagt: Er wurde es am 18.Dezember 1939. Denn damals wurde die neoorthodoxe Jüdische Gemeinde Adass Jisroel per Verfügung des „Chefs der Sicherheitspolizei und des SD“ zwangsaufgelöst. Die Tucholskystraße 40, mit Synagoge, Gemeindezentrum und Rabbinerseminar, ging in den Besitz der NS-„Reichsvereinigung der Juden“ über. Vom Scheunenviertel, der ostjüdischen Enklave im brausenden Berlin, mit seinen koscheren Speisestuben und ärmlichen Absteigen, seinen Betstuben und Kleinhandwerkern, ist nichts mehr übriggeblieben. Die Bewohner umgebracht, die hebräischen Schriftzeichen verblättert und übertüncht. Nur die Verfügung vom 18.Dezember 1939 ist noch in Kraft.

„Es geht uns um historische Gerechtigkeit, um die Anerkennung, daß das Recht der Nazis widerrechtlich ist“, sagt Mario Offenberg, der Geschäftsführer von Adass Jisroel. Nach dem Krieg gaben die Alliierten das konfiszierte Eigentum der Jüdischen Gemeinde wieder zurück, allerdings nur auf dem Gebiet der heutigen DDR, nicht in Ost-Berlin. Etwa 180 Häuser und das Archiv der Jüdischen Gemeinde, die vor der Nazizeit 160.000 Mitglieder hatte - davon rund 30.000 Mitglieder der Adass Jisroel -, sind weiterhin im Besitz des Ostberliner Magistrats. Die Gebäude werden von der kommunalen Wohnungsverwaltung vermietet. In der 1985 renovierten Synagoge in der Brunnenstraße 33 etwa ist über dem Tor noch zu lesen: „Dies ist das Tor, durch das die Gerechten eintreten werden“ - nur sind die Gerechten heute Büroangestellte des VEB Kosmetik.

Das Interesse der Jüdische Gemeinde in Ost-Berlin an einer Rückgabe der Grundstücke ist gering - die Kosten für die Instandhaltung würden die knapp 200köpfige Gemeinde bei weitem überfordern. Auch die Adass Jisroel, zu der nach Angaben Offenbergs in beiden Teilen der Stadt 50 Familien gehören, wäre überfordert, doch: „Es geht uns nicht in erster Linie um Häuser“, meint Offenberg. Es geht ihm um die Anerkennung als Religionsgemeinschaft. Denn Offenberg fühlt sich von der Jüdischen (Einheits-)Gemeinde nicht vertreten. Offenberg wirft ihr vor, über das Vermögen der Adassianer unbefugt verfügt zu haben und ihre Anerkennung zu hintertreiben. Der Westberliner Senat hatte im Sommer die Zulassung als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit der Begründung verweigert, er sähe es nicht als gegeben an, daß die Adass Jisroel als Gemeinde funktionsfähig sei. Beweis: Adass Jisroel besäße noch nicht einmal eine Synagoge.

Das könnte sich nun ändern. Im November hatte Honecker zugesagt, Adass Jisroel wieder in ihr Recht einzusetzen, und im März waren bereits alle Formalitäten abgeschlossen. Später genügte zwar ein Anruf aus dem Büro des Staatssekretärs für Kirchenfragen, um alle Zusagen für ungültig zu erklären - doch es war Wendezeit: Am 13.November appellierten der jetzige CDU-Vorsitzende Lothar de Maiziere, Bischöfe beider Kirchen und Gregor Gysi an die Regierung, Adass Jisroel als Gemeinde anzuerkennen. Kurz nachdem er selbst ins Kabinett eingezogen war, sprach de Maiziere noch einmal bei Modrow vor. So geht Offenberg davon aus, daß am Montag der Nazierlaß in der DDR nach fünfzig Jahren aufgehoben wird: „Wir sind guter Dinge.“ Um 17 Uhr wird sich die Gemeinde am Montag im Gebäude Tucholskystraße 40 treffen.

Kulturverein gegründet

Um auch nichtreligiösen Juden die Möglichkeit zu bieten, sich über jüdische Geschichte und Kultur auszutauschen, ist am Dienstag ein Kulturverein gegründet worden. Prominentestes Mitglied werde der neue SED-Generalsekretär Gregor Gysi sein. Ein Anliegen des Vereins ist der Kampf gegen Antisemitismus. Erst Anfang der Woche war auf dem Friedhof der Adassianer in Weißensee eine Grabstelle geschändet worden.

smo