Verdummte dieser Erde

■ Kinderdemo auf der Stalinallee

Berlin (taz) - Was ist Revolution? Ole vom Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin-Mitte weiß es: „Früher mußteste salutiern und schrein: 'Klasse 5 meldet sich zum Unterricht!‘ Heute sagen wir nur noch: ,'n Morjn!'“ Und wer nicht mehr salutieren mag, der geht auch demonstrieren: Rund tausend regennasse Jungrevolutionäre zogen Mittwoch nachmittag vom Haus des Kindes die ehemalige Stalinallee hinunter zum Haus des Lehrers. Mancher trug Lampions, mancher trillerte und rasselte, mancher trug systemüberwindende Parolen: „Pionierleiter aller Schulen beseitigt euch“, oder auch weltweise: „Rückt unser Weltbild wieder gerade“.

Christoph Becker, 8. Klasse, sagt, wie es ist: „Kinder sind die am meisten unterdrückte Bevölkerungsschicht der DDR“ das Volk trötet, rasselt und pfeift, daß es nur so von den Hochhauswänden gellt. Christoph peitscht weiter: „Wir fordern ein Kinderparlament in der Volkskammer“, und Jutta Bock, eine dreizehnjährige Krupskaja aus der Russischschule, nennt den Tyrannen beim Namen: „Margot Honecker muß vor uns Rechenschaft ablegen! Russisch muß fakultativ sein“ seliges Pfeifen der Massen, denen lustlose Gestalten in endlosen Stunden die Feinheiten des russischen Genitiv beibringen sollten. „Da frajn Se ein, wann Lenin jeborn is‘

-wat solln ditte?“ - eine Beobachtung, die diese Blondgelockte zur Forderung nach Überarbeitung der Prüfungsordnung gebracht hat.

Hut ab - man ist durch intensive Pionierschulung redegewandter als die Westler: „Wir sind keine dressurfähigen Tiere, sondern lernfähige Menschen“, spricht ein Sechskläßler, und schweigend halten seine Mitschüler ein selbstverfaßtes Flugblatt in den Nieselregen: weniger alte Kampflieder, kein Militärunterricht, mehr und frühere Spezialisierung und - wie einst auf der „Potemkin“ besseres Essen. Das sind die Forderungen. Und: „Weg mit der Pionierbluse - die ist doch viel zu eng.“

Das verhaßte Fach „Staatsbürgerkunde“ soll in Ethik umgestaltet oder am besten gleich ganz abgeschafft werden. In einigen Vorortschulen Berlins ist es kürzlich zu den ersten Autodafes gekommen: In den Schulhöfen brannten die Staatsbürgerkunde-Bücher.

Wie in Berlin gärt es in vielen Schulen der Republik. In Rostock und Greifswald kam es am Mittwoch zu Schülerstreiks, um eine sofortige Bildungsreform und den Wegfall des Nachmittagsunterrichts durchzusetzen. Der Dresdener Bezirksschulrat Hasler sprach gar besorgt von einer Zunahme der Disziplinarverstöße. Linksradikalismus als Kinderkrankheit der Revolution?

Alexander Smoltczyk