: Über drei Stufen zur deutschen Einheit
Die Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ legt deutschlandpolitische Thesen vor, die die staatliche Einheit an vorausgehende Reformen in beiden Ländern knüpfen Sind die Montagsdemos in Leipzig bald vorbei? / Aus Angst vor Polarisierung plädieren Kirche und demokratische Gruppen für einen Schweigemarsch ■ Von Matthias Geis
Mit einem „Dreistufenplan der nationalen Einigung“ hat sich gestern die Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ an die Öffentlichkeit gewandt. Die deutschlandpolitischen Thesen der Initiative versuchen den demokratischen Konsolidierungsprozeß der DDR mit der schrittweisen politischen Annäherung der beiden deutschen Staaten so zu verkoppeln, daß am Ende eine „neue politische Einheit der Deutschen, gegründet auf einer solidarischen Gesellschaft“ entstehen kann. Damit hat erstmals eine der oppositionellen Gruppierungen eine deutschlandpolitische Perspektive entwickelt, die zwischen der Forderung nach schneller „Wiedervereinigung“ und einem eigenen Entwicklungsweg der DDR zu vermitteln sucht.
Der Stufenplan, der von den Gründungsmitgliedern der Initiative Stephan Bickhardt, Konrad Weiß und Ludwig Mehlhorn in Ost-Berlin der Presse vorgestellt wurde, reagiert auf den Stimmungsumschwung für eine „Wiedervereinigung“, der sich auf den Montagsdemonstrationen in Leipzig in den letzten Wochen immer deutlicher artikuliert hat. Die „Einheit des deutschen Volkes“, heißt es in den Thesen, sei in jüngster Zeit „auf elementare Weise neu erfahren“ worden. Damit sei auch die Frage, „wie diese Zusammengehörigkeit künftig gestaltet werden soll“, auf die politische Tagesordnung gerückt. Noch vor zwei Wochen hatten Mitglieder der Bürgerbewegung den Aufruf von Christa Wolf, Stefan Heym, Volker Braun und anderen prominenten DDR -BürgerInnen unterstützt, der mit der Warnung vor dem „Ausverkauf“ an die Bundesrepublik alle Überlegungen über eine staatliche Annäherung abgelehnt und für einen eigenständigen, demokratisch-sozialistischen Weg der DDR geworben hatte. Gegen diese kompromißlose Alternative plädiert „Demokratie jetzt“ für eine schrittweise Annäherung, parallel zu politischen Reformen in der DDR und der Bundesrepublik. Für die DDR bedeutet dies freie Wahlen, den Aufbau eines parlamentarischen Systems, eine neue Verfassung sowie die ökonomische und ökologische Konsolidierung. In der Bundesrepublik müßten ebenfalls gesellschaftspolitische Reformen eingeleitet werden, die auf mehr soziale Gerechtigkeit, Abbau der Arbeitslosigkeit und umweltverträgliche Produktion und Konsumtion hinzielen. Der Beginn beidseitiger Abrüstung und die Einberufung einer deutschen Nationalversammlung zur „demokratischen Willensbildung in der nationalen Frage“ soll die erste Phase abschließen. Die zweite Stufe umfaßt den Ausbau des Grundlagenvertrags zu einem „Nationalvertrag“, den Zusammenschluß zu einem Staatenbund, eine duale Staatsbürgerschaft und die Doppelmitgliedschaft in der EG und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Demgegenüber soll die Mitgliedschaft in Nato und Warschauer Pakt „ruhen“ und der Entmilitarisierungsprozeß unter gesamteuropäischer Beteiligung vorangetrieben werden.
Die letzte Etappe des Einigungsprozesses soll durch den Rückzug der Alliierten und die Verabschiedung eines „Europäischen Friedensvertrags“ eingeleitet werden. In einem Volksentscheid soll dann über die politische Einheit in einem „Bund Deutscher Länder“ abgestimmt werden. Mit der Schaffung der staatlichen Einheit sollen zugleich „international verbindliche Verpflichtungen“ zur Schaffung einer solidarischen Weltwirtschaftsordnung und einer ökologisch verträglichen Produktionsweise eingegangen werden. Dieser Entwurf will die Stimmungen für eine „Wiedervereinigung“ nicht abwehren, sondern aufnehmen und in eine rationale Debatte einbinden. Die politische Perspektive auf die Einheit soll die Gefahr einer Eskalation zwischen Gegnern und Befürwortern der „Wiedervereinigung“ bannen und Zeit gewinnen für die notwendigen Reformprozesse in beiden Ländern. Nur so sei die Vereinnahmung der DDR und die bedingungslose Übernahme hiesiger Verhältnisse zu verhindern.
Direktere Deeskalationsvorstellungen haben unterdessen Vertreter von Kirche und demokratischen Gruppen in Leipzig entwickelt. Sie plädieren für einen Schweigemarsch am kommenden Montag, der einen „würdigen Abschluß für die Demokratiebewegung dieses Herbstes“ bilden soll - ohne Parolen und Plakate. Ob die Tradition der Leipziger Montagsdemos im neuen Jahr weitergeführt wird, müsse nach der politischen Lage entschieden werden. Der Aufruf gründet wohl auf der Angst vor zunehmender Polarisierung um die „deutsche Frage“. Doch ob die Zeit schon reif ist, um die demonstrative Unterstützung des Reformprozesses zu beenden, bleibt zumindest zweifelhaft.
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