Bewußt altern, unbewußt den Puls der Zeit suchen

Heinrich Albertz legt ein Buch über das Alter vor, welches in Wahrheit ein Buch über den Alten ist  ■ hierhin

den pfeifenkopf schattenriß

Schismatische Verhältnisse in der Bremer Christenheit: ein Lager liest die taz (nicht zuletzt wg. „Wort am Montag“), ein anderes kann gar nicht so viel abonnieren, wie es kündigen wollte. Tazfreche Blasphemien fechten zwar den großen Gott nicht an und stören auch die Kreise seiner Kirche nicht, doch einigen Gläubigen geht's heftig an die Galle. Zu letzteren gehört ein Bremer Immigrant und Ruheständler, Pfarrer Heinrich Albertz.

Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon (90.Psalm). Heinrich Albertz währet schon 74 Jahre, sein Leben Foto: Katja Hedding

war Mühe und Arbeit, in einem Bremer Altenheim sieht er dem Ende ins Gesicht und schreibt darüber: „Am Ende des Weges. Nachdenken über das Alter.“

Das Alterswerk des Pfarrers der bekennenden Kirche, Nazihäftlings, Soldaten, niedersächsischen Flüchtlingsministers und (1966/67) Regierenden Bürgermeisters von Berlin ist eine merkwürdige Mischung aus Tagebuch, Nekrolog und Ratgeber für Alte und solche, die es werden wollen. Am 24. Oktober '88 setzt er sich an den Schreibtisch, kurz bevor die „schrecklichen Daten der nationalen Geschichte“ sich jähren, um Geschichte und Geschichten zu schreiben, an tote Freunde zu erinnern und vom bewußten und rechtzeitigen Einrichten ins Alter zu erzählen, das seinen Anfang schon in jungen Jahren haben soll. Denn man muß schon zu leben gelernt haben, wenn man auch im Alter lebendig sein will. Deshalb richtet sich Albertz‘ Buch auch an Junge, denen er sich vor dem Hintergrund eines aufregenden Lebens als vorbildlicher Alter präsentiert: Sehet her, ich bin „lebenssatt“!

„Oh, ich schreibe fast einen Werbeprospekt“, stellt Albertz einemal zu seinen Bemühungen, das Leben im Altenheim von seinen Vorteilen her zu charakterisieren, fest. Kurze Wege, Service, Menschen mit gleichen Erfahrungen des Alterns und Nähe des Pflegepersonals - er schildert eindrücklich seinen ersten Sturz, der einen „gewissen Hochmut“ gegenüber wirklich Alten verfliegen läßt, jetzt muß er am Stock gehen. Doch, und das macht dieses Buch so sympathisch, Albertz bleibt auch sich selbst gegenüber meist kritisch, er betrachtet sich im Vergleich mit anderen Alten als mehrfach privilegiert, sowohl finanziell als auch lebensgeschichtlich. Und: „Es ist schwer, über das Alter zu schreiben, wenn man noch zu zweit ist.“ Seine Frau wohnt im selben Heim, in nützlichem Abstand mit Frühstücksverabredungen.

„Am Ende des Weges“ ist auch ein Geschichtsbuch. Ein ganzer Abschnitt des Buches ist „den Toten gewidmet, die damals (in den Anfangsjahren der Republik) Verantwortung trugen.“ Und zwischen denen Albertz meist als „Benjamin“ seinen Platz hatte. Kurt Schumacher: „dieser brennende Mann“, dieser „preußische Reserveoffizier aus dem verlorenen Osten des Reiches“. Adenauer: „Kühl, in einer unüberwindlichen Distanz“, „trockene, leichte Greisenhand“. „Die Temperatur sank, wenn er in einen Raum trat.“ Ollenhauer: „väterlicher Freund“ voll „Lauterkeit“, den Kollegen Erler und Wehner aber intellektuell unterlegen.

Und auch kein Geschichtsbuch. Am 28.2. jeden Jahres ist für Albertz „Aden-Tag“, damals, 1975, Entführung von Peter Lorenz, der Pfarrer flog mit nach Aden, die Bilder vom aus dem Flugzeug winkenden Brillenträger werden den meisten LeserInnen bekannt sein. Doch ist dies hier nur ein Stichwort, um über die seltsamen Wege der Erinnerung zu sinnieren, warum welche Daten wichtig sind. Das Buch Albertz nimmt sich die Freiheit - geht Assoziationen nach, eine Nachricht über Reps im Berliner Rathaus führt zu den Grünen, zum Reichstag. Zahlreich sind die Hinweise darauf, daß der Alte, obgleich „am Ende des Weges“, doch mit seinem Herzen noch immer den Puls der Zeit sucht, voller Hoffnungen auf Rot-Grün, voller Beteiligung am Schicksal hungerstreikender Gefangener, immer bereit, sich gegen Munitionsdepots zu engagieren. Sein Einsatz für Gabi Tiedemann, die jetzt den OPEC-Prozeß hat: „sie ist längst genug gestraft“.

Am 8.Juni '89 klappt Albertz sein „Tagebuch“ zu, nach 43 Wochen. Sein Buch ist nicht, wie der Verlag suggeriert, ein „Buch über das Alter“ geworden, eher ein Buch über den Alten, seine Sorgen und Hoffnungen, seine Weisheiten, seine Eitelkeiten und den Versuch, sich in Bescheidenheit und Altsein zu über. Was nicht immer gelingt. (Deo gratias!) Burkhard Straßman

Kindler-Verlag, 176 S., 28.-D