GROSSDEUTSCHER SCHUND

■ Thorsten Becker über die Aufhebung des literarischen Raumes nach dem Mauerfall

taz: In deiner Erzählung „Die Bürgschaft“ schreibst du, die Transitautobahn sei womöglich der einzige Ort, den die Bundesrepublikaner noch fürs Erzählen haben. Wo bleibt jetzt der literarische Raum, wenn es das Zwei-Stunden -eingeschlossen-Sein nicht mehr gibt?

Thorsten Becker: Ich glaube in der Tat, daß die Wiedervereinigung für die Literatur einen Verlust bedeutet, den Verlust einer Denkmöglichkeit, aus der in den letzten Jahren die besten Wirkungen der deutschen Literatur entstanden sind. Ich weiß nicht, wie ich in einem wiedervereinigten Deutschland schreiben könnte - noch weiß ich, wie Christa Wolf oder Heiner Müller in einem solchen sozialen Körper noch zu irgendeiner intellektuellen Leistung fähig sein sollen. Natürlich wird es andere geben. Es wird jetzt ein Aufblühen der großdeutschen Schundproduktion geben.

Und dein literarischer Raum?

Der ist im Moment vor allem in Damaskus. Ich war dort am Goethe-Institut zu Gast und habe an der Theaterhochschule eine Produktion begonnen. Ich bin nach Berlin zurückgekommen, weil mir keine Ruhe ließ, was ich gehört habe. Spätestens, als der DDR-Kulturattache in Damaskus umfiel, war mir klar, daß etwas Entscheidendes vor sich gegangen ist. Obwohl er noch eine Woche vorher wie ein Hardliner gesprochen hatte, fing er plötzlich an, wie Rudi Dutschke zu reden. Da dachte ich: Was ist denn mit dir passiert, Genosse? Und jetzt sind meine schlimmen Befürchtungen noch übertroffen worden.

Was für Befürchtungen waren das?

Daß es sich um einen Erfolg der Helmut-Kohl-Politik handelt, und zwar nicht nur den größten Erfolg in seiner Regierungszeit, sondern überhaupt um den größten Erfolg in der CDU-Geschichte, eigentlich der größte Durchbruch seit Adolf Hitler. Seitdem Strauß weg ist, der nicht so pfälzisch dachte, kann Kohl mit seinen Schwadronen rechnen, nämlich den Hinterwäldlern der DDR. Spätestens im nächsten Sommer macht das KaDeWe eine Filiale in Frankfurt an der Oder auf, und in Polen passiert dasselbe, was jetzt mit der DDR geschieht. Ich glaube, der literarische Raum ist damit abgeschafft. Man kann jetzt in Deutschland nichts mehr spielen lassen. Auch den „Schmutz“ kann niemand mehr erfinden, denn der ist schon da.

Wofür steht die Figur des „Schmutz“?

Der „Schmutz„-Film hat seinen Vorläufer in Alexander Kluges Der starke Ferdinand. Dort wird aus der linken Spottposition beobachtet, und es findet eigentlich gar keine Auseinandersetzung mit dem eigenen Schmutz statt. Faschisten sind natürlich immer die anderen. Aber Protestanten oder Katholiken sind viele - Leute jedenfalls, die nach einem bestimmten Ordnungsschema organisiert sind: arbeits- und profitorientiert.

Viele Leute in der DDR hoffen jetzt darauf, bei Daimler Benz (Ost) arbeiten zu dürfen...

Das Makabere ist, daß auch der Sozialismus stark daran arbeitet, Leute auf Fleiß zu orientieren, so wie die Figur des Joseph Schmutz ist. Das fällt jetzt den Faschisten in den Schoß. Die DDR ist jedenfalls weg, spätestens, wenn die DDR-Mark abgeschafft wird. Die ökonomisch interessanten Westdeutschen werden dann zugreifen. Und die sozial Schwachen kaufen die DDR leer. Denn es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann Aldi geplündert wird.

Und dein Anteil an dieser Entwicklung?

Ich fühle mich natürlich auch mitschuldig als Wegbereiter dieser Intervention. Ich habe ein Beispiel gegeben, daß man aus dem Westen sein kann und nicht nur Spaß am Osten haben kann, sondern auch sein Interesse dort verfolgen kann.

Was hast du in Damaskus vor?

Ich versuche einen dramatischen Plan, der schon älter ist, wobei ein Akt in einem Atomkraftwerk spielt - wahrscheinlich in Deutschland - ein zweiter Akt auf einer Landstraße in Arabien und ein dritter Akt in einem Dorf in Westafrika: eine Fabel, die auf dem Wallraff-Stoff aufbaut. Zwei Überwachungsarbeiter, „Schmutze“ in heller Kleidung, sitzen in einem Atomkraftwerk und fragen sich: 'Wie sicher ist dieses Werk denn eigentlich? Ohne Prüfung wissen wir nicht, ob es sicher ist.‘ Die Angelegenheit eskaliert dann ziemlich schnell. Nebenbei gibt es Wallraff, der als Araber verkleidet Arbeit sucht. Am Ende kommen alle in dem Atomkraftwerk zusammen, und die Leiharbeiter sollen -wie in Ganz unten beschrieben- die Sache mal kurz in Ordnung bringen. In der entscheidenden Szene fällt Wallraff der Bart runter. Er verstrickt sich in seinem eigenen Jesustum und steigt für die leidende Menschheit in den Ofen, um das Rohr einzusetzen. Im zweiten Akt wacht er als Schwarzverbrannter auf der arabischen Landstraße auf.

Und wie soll das Stück realisiert werden?

Ich möchte mit den Schauspielern arbeiten, die aus den Gegenden sind, und mich belehren lassen. Ich jedenfalls möchte nicht dabei sein, wenn hier die Straßenschlachten losgehen.

Interview: Stefan Gerhard