LEBEN UND LIEBEN

■ Kolumbiens strahlende Seite: Cartagena

Nein, zum Hotel in der „Gasse des Heiligen Geistes“ könne er uns unmöglich fahren, erklärt der resolute Taxifahrer. Dort, im Viertel Getsemani in der Altstadt, ginge es nicht im geringsten heilig zu: Bordelle, Drogenhöhlen und Messerstecher. Gut, erklären wir, was er uns denn sonst empfehlen könne? Da fällt ihm nur das Hotel „Charisma“ ein. Als wir es in den engen, dichtbefahrenen Gassen endlich gefunden haben und uns unter dem großen, in grellen Farben gemalten Christusbild anmelden möchten, werden wir erst mal mißtrauisch beäugt. Wie lange wir denn, bitteschön, bleiben würden? In dem zwei mal drei Meter großen Zimmer im zweiten Stock kommen wir hinter den versteckten Sinn der Frage: Vom Balkon hinunter beobachten wir am Hoteleingang reges Leben. Das Hotel „Charisma“ ist ein Stundenhotel, und die gar nicht verschämten Pärchen kommen zu jeder Tageszeit. Flair der Karibik

In der Karibik, das weiß keiner besser als der kolumbianische Träger des Literatur-Nobelpreises, Gabriel Garcia Marquez, ist alles anders. Und wer karibisches Flair hautnah erleben möchte, der muß nach Cartagena an die Atlantikküste Kolumbiens reisen und eine Parkbank auf der kleinen und schattigen Plaza Bolivar ergattern. Mit großen Schritten erscheint ein alter hochgewachsener Mann. Sein Anzug muß einmal ein Vermögen wert gewesen sein und paßt gut zu den riesigen weißen Dandy-Schuhen, die der Schuhputzer gerade mit viel Mühe auf Hochglanz gebracht hat. Der Überlebende der zwanziger Jahre grüßt kurz und verschwindet. Gerade rechtzeitig genug, um dem Verrückten Platz zu machen, der mit einem riesigen Netz, einigen Bojen, vielen Tauen und Angelhaken wie ein lebendes Schiffahrtsmuseum daherzieht. Eine lärmende Schar aus dem Nichts auftauchender Kinder verfolgt ihn mit Geschrei. „So viele schöne Ehefrauen gibt es in Kolumbien“, seufzt plötzlich der Banknachbar und blickt sehnsüchtig hinter einer leicht bekleideten Dame her. Ein paar Meter weiter verwöhnt ein Bonbonfabrikant seine jugendliche Kundschaft: Jeder Dreijährige, der sich traut, ein Lied zum Besten zu geben, bekommt eine Tüte Süßigkeiten in die Hand gedrückt. Das Geplärr hallt durch die halbe Stadt. Spektakel für Touristen

Jeden Morgen ab acht Uhr ist an der Mole „Los Pegasos“ die Hölle los. Dann rücken Scharen von Touristen aus den Hotelburgen Bocagrandes an, um sich mit den kleinen, mit starken Außenbordmotoren bestückten Booten an einen der vielen Postkartenstrände in der Umgebung Cartagenas bringen zu lassen. Einen geregelten Kartenverkauf gibt es allerdings nicht. Statt dessen zanken sich zwei Dutzend Bootsbesitzer, Hilfsmatrosen und Vermittler um die verunsicherte, mit Shorts und Sonnenbrillen etwas lächerlich aussehende Kundschaft. Das Geschrei der Schwarzen und Mulatten wird immer bedrohlicher, fast ohrenbetäubend. Gleich neben einer der Buden, an der es die besten Säfte Kolumbiens gibt, schubst ein erboster Kapitän zornig den Helfershelfer seines Konkurrenten. Der kann da nicht tatenlos zusehen und kommt brüllend angelaufen. Gerade noch rechtzeitig kann ein dritter, etwas betrunkener Compadre eingreifen und allen beruhigend auf die Schulter klopfen. Die in der Hitze schwitzenden Touristen bekommen es mit der Angst zu tun, sehen sich schon in eine wilde Messerstecherei verwickelt und sind bereit, jeden Preis zu zahlen, um nur bald am Strand liegen zu können. Gegen zehn Uhr sind endlich alle Touristen auf den Booten untergebracht; das Geschrei verebbt. Die doch noch vor einer halben Stunde zerstrittenen Seeleute ziehen fröhlich Arm in Arm in die nächste Bar. Das Spektakel ist zu Ende.

Cartagena hat eine halbe Million lärmende Einwohner. Nirgendwo sonst ist das so hörbar wie auf dem Marktplatz Bazurco. Jeder zweite Verkäufer ist stolzer Besitzer eines riesigen Ghetto-Blasters und läßt seine Lieblingsmusik in voller Lautstärke erschallen. Die Geschmäcker sind verschieden, und so dröhnen inmitten des nicht ganz sauberen Kleidermarktes zehn verschiedene tropische Rhythmen. Ja, ein dunkelblaues T-Shirt habe er, erklärt uns der Budenbesitzer. Allerdings müsse er erst seinen Laufjungen schicken, um es zu suchen. Ob wir nicht statt dessen dieses gelbe kaufen möchten, meint er, und zeigt auf ein phosphoreszierendes, grell-gelbes Hemdchen, das zwischen den roten, grünen und hellblauen Varianten hervorlugt. Farben, die zur Musik passen.

Eine Musik, die nicht „toll“ oder gar „schön“ ist. Nein, karibische Rhythmen sind „sabroso“ - „lecker“. Der liebste Schlachtruf der unbestrittenen Göttin der Salsamusik, Celia Cruz, ist „azucar“, Zucker: lebhaft ist gleich schmackhaft. Kein Wunder, daß es in Cartagena nur so von fliegenden Händlern wimmelt, die sich mit dem Verkauf aller möglichen Leckereien über Wasser halten. Ganz vorne an stehen die tropischen Früchte, die Mangos, Papayas, Guanabanas, Nisperos und Patillas. An jeder zweiten Straßenecke ist ein Tuch auf dem Boden ausgebreitet und auf ihm eine stattliche Anzahl der verschiedensten Früchte: lecker und bunt. Dunkelgelb sind die in Scheiben geschnittenen und gebratenen Kochbananen, die Patacones. Fisch und Patacones in siedendem Öl auf einem rustikalen Grill zubereitet, dazu ein Schluck aus der Rumflasche „Tres Esquinas“: Ungefähr so schmeckt die Karibik. Unter den Arkaden am „Portal de los Dulces“ dagegen wird es süß, und an zwei Dutzend Verkaufsständen wird eine Unzahl von Kügelchen, Plätzchen und Bonbons dargeboten. Eine ältere Frau erklärt den Fremden gerne ihre Leckerbissen: Jenes braune Kügelchen etwa, das sei wirklich vom Feinsten, ein Gemisch aus Zucker und der tropischen Tamarindenfrucht. Gold und Piraten

Eine sanfte Meeresbrise streicht durch die engen Gassen und kühlt die tropische Hitze. Die Altstadt Cartagenas ist umringt von einer massiven, oft fünf Meter hohen Stadtmauer. Wer sich durch die engen, balkonüberhangenen Gassen treiben läßt, stößt früher oder später auf die gewaltigen Mauern, die den wichtigsten Atlantikhafen des Vizekönigreiches Neu -Granada jahrhundertelang vor unerwünschten Besuchern schützten. Hier in Cartagena wurde das im Inland den Indios entrissene und später in Minen abgebaute Gold nach Spanien eingeschifft. Hier war auch der größte Eingangshafen für die im 17. und 18. Jahrhundert legal und illegal eingeführten Sklaven aus Afrika. Viel Gold war hinter den Mauern im Umlauf, und Cartagena wurde zu einer ständigen Verlockung für Abenteurer aus aller Welt. Alle paar Jahre tauchten am Horizont die bedrohlichen schwarzen Fahnen der Piraten auf. Edward Vernon und seine Freibeuter versuchten ihr Glück 1741. 56 Tage lang hielten die Bewohner Cartagenas hinter den Stadtmauern unter Hunger und Durst der Belagerung stand. Dann schließlich zog der englische Pirat unverrichteter Dinge von dannen, Cartagena atmete auf.

Einige der von den Piraten so gehaßten Kanonen stehen noch heute auf der Mauer und rosten vor sich hin. Besser jedoch als die eisernen Überbleibsel einer stürmischen Zeit sind die leerstehenden Nischen. Denn Cartagena liebt auf Schritt und Tritt, und vor allem in den Nischen der Stadtmauer. Fast kitschig geht die rote Sonne am Horizont unter; die Scheinwerfer werden angeschaltet und beleuchten die große, rundliche Kuppel der Kathedrale; die hölzernen Balkone sind nur noch Silhouetten im Hintergrund; der Wellengang der Karibik rauscht sanft; die Luft ist klar. Wer jetzt nicht auf der Straße ist, ist krank. Und wer liebt, geht auf der Stadtmauer Hand in Hand mit dem oder der Auserwählten spazieren. Soviele Liebespärchen pro Quadratmeter wie auf der Stadtmauer in Cartagena gibt es sonst nirgendwo. Leben und Lieben in der Karibik. Plötzlich versteht man den Titel eines in Cartagena geschriebenen Buches: Die Liebe in den Zeiten der Cholera.

Ciro Krauthausen