DIE EWIG ZWEITE

■ Sechsunddreißig Stunden in Chicago

Noch zwei Stunden bis Chicago. Die Klimaanlage im Auto schafft nur mühsam eine angenehme Temperatur. Mein Fahrer David erzählt mir ohne Unterbrechung von dem, was mich erwartet. Mit 2,9 Millionen Einwohnern ist die Stadt weit abgeschlagen hinter New York mit seinen 7,1 Millionen. 40 Prozent schwarzer Bevölkerungsanteil. Eine ausgeprägte schwarze gehobene Mittelschicht mit diffiziler Position zwischen den Brüdern und Schwestern und einer bornierten weißen Schicht.

Auch nach dem Tod Al Capones, dem heimlichen Regierungschef in den dreißiger Jahren, schwebt über der Stadt das Gerücht, daß Korruption zum Alltagsgeschäft gehört. Den amerikanischen Gewerkschaften eilt ohnehin nicht gerade der Ruf voraus, besonders integer zu sein - aber in Chicago... Wie gesagt, Gerüchte.

Wenn du in fremde Städte reist, bist du in deiner Wahrnehmung oft abhängig von den Kenntnissen, Interessen und Hobbys deiner Begleitung. Meine Begleitung kennt sich aus in Architektur. Das geht in Ordnung. Damit kann ich mich arrangieren. Besser als ein Musikfreak, bei dem Städte erst in der Nacht zu existieren beginnen. Und: Chicago soll das Mekka moderner Architektur sein. Nicht moderner Stadtplanung, nein, Stadtplanung scheint eher etwas für europäische Gemüter, für die Kirche und Marktplatz immer noch der Mittelpunkt jeder Stadt sind.

Vor uns erhebt sich inzwischen die Chicagoer Skyline. Und gleichzeitig fühle ich diesen Sog, der mich immer dann packt, wenn ich eine fremde Stadt vor mir sehe. Eine Art Erlösung von mir selbst, weil mich diese Mammutstädte mit ihren Geräuschen und der gewaltsamen Optik überfluten und ich mir unwichtig werde. Ich verlasse mich.

Der erste Eindruck bringt mich aus der Fassung. Wir fahren von Süd nach Nord entlang des Lake Michigan. Die Millionenstadt präsentiert sich mir mit einer 40 Kilometer langen Beach. Unbebaut, mit Strandleben, Yachthäfen - du fühlst dich wie an der Costa Brava, solange dein Blick nach Osten geht.

Von der Beach fahren wir Richtung Westen in die City, entlang des Chicago River, mit dessen verzweigten Armen sich das Straßensystem geschickt arrangiert hat. Ein Blick den Fluß hinauf auf seine vielen Brücken, das ist wie Venedig auf amerikanisch. Etwas anders dimensioniert. Rennboote statt Gondeln. Und die Stahlbrücken, selbst wenn sie sich heben, wirken winzig zwischen den Fassaden der City. Fast alle Brücken sind mobil. Früher fuhren die beladenen Dampfer hier entlang zum Hafen.

Inzwischen ist es Nacht geworden. David fährt unverdrossen weiter. Seine ersten Erläuterungen gehen ungehört an mir vorbei. Sorry, bei Nacht sind nur noch die Lichter von Bedeutung. Jede amerikanische Großstadt verhilft einem zu Illusionen. Darin sind die Städte austauschbar.

Etwas unsanft werde ich in die Dunkelheit verfrachtet. Wir donnern geradewegs in die Unterwelt. Straßenbeleuchtung existiert hier nicht, Scheinwerfer sind wohl überflüssig. Die wenigen Wagen, denen wir begegnen, schleichen auffällig. Scheint auch angemessen. Soweit ich erkennen kann, hat die Straße wadentiefe Schlaglöcher. Ab und an ragt ein verrosteter Kotflügel in die Fahrbahn hinein.

Eine Gruft für Autowracks. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Hin und wieder sitzen Menschen drin. David fühlt sich wie im Film (ich auch). Mit heulendem Motor und quietschenden Reifen nimmt er die Kurven. Nur daß die Kurven, wie in amerikanischen Straßennetzen üblich, rechtwinklig sind. Der Motorenlärm hallt durch den Tunnel, durch die maroden Stahlträger und macht die Inszenierung perfekt. Wir befinden uns in einem alten Teil des Chicagoer Straßensystems, das inzwischen überbaut wurde.

Wir tauchen wieder auf. Bis jetzt war ich fünf Stunden in Chicago.

Am nächsten Tag benutzen wir erst die öffentlichen Verkehrsmittel. Die Züge fahren nur zu ungefähren Zeiten. Nichts für Businessmen. Entsprechend sympathisch sehen die Fahrgäste aus.

Jetzt stehe ich also in der City, die immer darunter leidet, die ewig Zweite nach New York zu sein. Hier sind die Bauareale noch nicht so knapp, daß bereits die Dächer als Bauplätze verschachert werden. Generationen von Gebäuden verdecken sich gegenseitig und lassen den Blick nicht zur Ruhe kommen. Gläserne Halbzylinder, deren Endpunkte mit unnachahmlichem Swing aufwärtsragen. Futuristische Formen, für die mir spontan keine Beschreibungen einfallen, schieben sich vor Fassaden aus Zuckergußrenaissance. Jedem Renaissanceliebhaber müssen die Tränen in die Augen schießen angesichts der wie Kaugummi in die Länge gezogenen Elemente. Das hat auch nichts mehr mit Manierismus zu tun. Andererseits wirkt es auf mich erheiternd, wie immer, wenn „Stil“ nicht bierernst, sondern ganz unbedarft gehandhabt wird. Der latente Komplex der Nation, nur eine dürftige Historie zu besitzen, gebiert die skurrilsten stilistischen Ansammlungen dessen, was eben für Geschichte gehalten wird.

Drei Namen scheinen die Chicagoer Architekturgeschichte zu dominieren: Louis Sullivan, Frank Lloyd Wright und Mies van der Rohe. Sullivan arbeitete nach dem großen Brand von 1871. Seine zentrale These „form follows function“ hielt ihn nicht davon ab, phantastische Art-deco-Fassaden zu entwerfen. Van der Rohe mit seinen Glas- und Stahlkonstruktionen - klar, faszinierend einförmig, eindeutig - entsprechen seiner Idee „weniger ist mehr“. Noch in den Sechzigern ist etliches nach seinen Entwürfen entstanden, zum Beispiel der Lake Point Tower.

F.L. Wright ist nun Davids Schwarm. Ihm zuliebe fahren wir zwischendurch in einen gutbürgerlichen Stadtteil im Westen. Mr. Wright bevorzugte weniger das Planen von Bürohäusern als das Nachdenken über Wohnen schlechthin, das menschlichere Wohnen.

Wir hingegen besichtigen noch etwas anderes von ihm, nämlich eine Art Kirche, wohl mehr konzipiert als Gemeindehaus: Zur Straße hin wie ein kleiner flacher Bunker, öffnet sich das Gebäude erst nach hinten, vom Straßenleben (prinzipiell bei Wright) abgeschirmt. Asymmetrisch, mit leicht geschwungenen Flachdächern, japanisch anmutend. Die Innenräume, die Einrichtung, Lampen, Bänke, Schreibtische, ebenfalls entworfen von Wright. Angepaßt an seine Idee des organisch Gewachsenen.

Nun hätten wir uns sicherlich noch einige Zeit ergötzen können. Aber was soll man in die Tiefe schweifen, wenn die City noch so viel zu bieten hat... David kurvt uns zurück. Es gibt noch einiges zu sehen. Nämlich den Sears Tower, mit 440 Meter der höchste Wolkenkratzer der Welt. Und mit ihm liegt Chicago endlich mal vor Manhattan an der Spitze.

Einige Straßenecken weiter ein kleiner Skyscraper, immerhin an die 150 Meter hoch. Der höchste ohne Stahlskelett konstruierte. Gemauerte Außenwände, Stein für Stein hochgezogen. Ab 1913 konnten durch neue statische Erkenntnisse die Häuser in den Himmel wachsen.

Und zwischen den Gebäuden: Kunst, sehr viel Kunst! Hier eine Plastik von Oldenbourg, dort der „Chicago Picasso“, in der nächsten Straßenschlucht der größte Miro. Nicht zu vergessen Four Seasons von Chagall und Calders Flamingo auf der Federal Plaza. Meine Augen schwappen über. Irgendwann lehne ich an einer Wand, die sich meinem Rücken bequem anpaßt. Sie ist konkav, über mir wölbt sich eine überdimensionale Glasfassade. Ich weiß nicht mehr, um welches Gebäude es sich handelte. Eine letzte Tour führt mich in das wunderbar heruntergekommene Chinatown. Dann sitze ich wieder im Flugzeug zum alten Europa. Ich war 36 Stunden in Chicago.

Annette Schöler