Demokratie und Gehorsam

■ Im März 1989 wurde in der Sowjetunion der „Bund zur sozialen Verteidigung von Berufs- und Zeitsoldaten“ (Schtschit) gegründet / „Wir fordern eine Änderung der sowjetischen Militärdoktrin“ / Ein Gespräch mit Oberstleutnant Uraschzew, das trotz des Moskauer Winters in einem parkenden Auto stattfinden mußte

Witalij Georgiewitsch Uraschzew, 45, ist einer von drei Vorsitzenden des Verbandes „Schtschit“, eines im Frühjahr 1989 gegründeten gewerkschaftlichen Interessenverbandes von Zeit- und Berufssoldaten in der sowjetischen Armee. Er ist zuständig für „ideologische Fragen“. In den letzten sechs Jahren war er als Parteifunktionär in der politischen Hauptverwaltung der Roten Armee und Kriegsflotte tätig und hat außerdem als Ghostwriter unter anderem für deren Chef General Jepischew und den ehemaligen Verteidigungsminister Marschall Gretschko gearbeitet. Uraschzew wurde kürzlich wegen „Demagogie“ aus der KPdSU ausgeschlossen und meint jetzt, es mache mehr Spaß, die eigenen Reden zu schreiben.

Der endgültige Termin für mein Gespräch mit dem „Schtschit“ -Vertreter wurde sehr kurzfristig vereinbart. Schon eine halbe Stunde später war Vitalij Georgiewitsch im Moskauer taz-Büro. Das Interview mußte jedoch woanders stattfinden mit Rücksicht auf einen Zeugen aus den eigenen Reihen, den Uraschzew dabeihaben wollte. Dieser hatte es so schnell nicht geschafft, seine Uniform gegen zivile Bekleidung auszutauschen und mochte in diesem Aufzug nicht den ständig von Milizionären und „Handwerkern“ umschwirrten Ausländerwohnblock betreten.

Das Gespräch fand dann einige hundert Meter vom Haus entfernt in einem Pkw statt. Nach kurzer Zeit stellten sich zwei weitere Autos daneben, die während unseres Gesprächs nicht von der Stelle wichen. Dann tauchte in der Mondlandschaft vor der Siedlung ein verhärmtes Männlein hinter dem Schneehügel vor der Kühlerhaube auf. Er klopfte ans Autofenster und erkundigte sich nach dem Weg zu einer bestimmten, weit entfernten U-Bahnstation, wobei er die „Schtschit„-Leute nebst taz-Korrespondentin einer ausführlichen Musterung unterzog. Anschließend stieg er dann in eines der beiden neben uns parkenden Fahrzeuge - und blieb. „Wie schwer sich doch diese Leute das Leben machen“, wunderte ich mich, „sie könnten das Gespräch doch einfach in der Zeitung nachlesen!“ „Das ist ja das Traurige“, antwortete Uraschzew aufgeräumt, „daß sie nichts lesen!“

taz: Was hat zur Gründung Ihres Verbandes geführt?

Uraschzew: Ein Mensch, der in die Armee eintritt, wird automatisch diskriminiert und verliert viele Rechte des normalen Bürgers. Aus dieser Einsicht heraus haben wir am 28.März diesen Jahres unseren Verein gegründet. Wir, das waren damals 25 Reserveoffiziere der sowjetischen Armee und Kriegsflotte. Bei unserem Gründungskongreß trugen sich schon 500 Mitglieder ein, und jetzt sind es über 600. Von Anfang an nannten wir uns „Bund zur sozialen Verteidigung der Berufssoldaten, der Zeitsoldaten und ihrer Familien“. Die Abkürzung „Schtschit“ ist gleichlautend mit der russischen Bezeichnung für den „Schild“.

Wir hielten unsere Organisation erst für einzigartig. Als wir uns aber dann mit den Erfahrungen der westlichen Armeen vertraut machten, stellten wir fest, daß vergleichbare Verbände - aus ganz ähnlichen Gründen wie bei uns - in den Nato-Ländern bereits existieren, so bei Ihnen zum Beispiel der Bundeswehrverband.

Ihr Eröffnungskongreß am 21. und 22.Oktober hat ziemliches Aufsehen erregt.

Der Eröffnungskongreß war für uns eine wichtige Erfahrung. Er fand unter absolut demokratischen Bedingungen statt. Weder die Partei noch die Gewerkschaften können sich heute auch nicht intern - freie und geheime Wahlen erlauben, wie wir sie abgehalten haben. Gewählt wurde ein Leitungsgremium aus drei Reserveoffizieren, die jeweils für organisatorische, wirtschaftliche und ideologische Fragen zuständig sind. Meine beiden Mitvorsitzenden waren noch bis vor kurzem aktiv in der Armee - einer von ihnen in Afghanistan - und haben eine lange politische Geschichte im Komsomol (Jugendverband der Partei) - hinter sich. Und wenn ich nicht kürzlich wegen „Demagogie“ ausgeschlossen worden wäre, dann könnte man sagen, daß alle unsere Vorsitzenden der Partei angehören. Außerdem haben wir ein Koordinationskomitee von 21 Personen, die die Verbindungen zwischen den über 60 Städten aufrechterhalten, die in unserem Verband vertreten sind. Über die Hälfte unserer Mitglieder ist aktiv im Dienst, und vom einfachen Soldaten und Fähnrich bis zum U-Boot-Kommandeur und dem Kommandeur einer Raketen-Abschußbasis sind bei uns alle Ränge vertreten.

Zur Person unseres Ehrenvorsitzenden Generalleutnant Schaposchnikow muß man noch ein paar Extraworte sagen: Er war im Jahre 1962 erster stellvertretender Kommandeur des nordkaukasischen Militärbezirkes und hat sich in dieser Eigenschaft damals geweigert, den Schießbefehl auf die demonstrierenden Arbeiter in Nowtscherkassk zu erteilen. Anschließend wurde er degradiert, vorzeitig in den Ruhestand versetzt und all seiner Auszeichnungen und wirtschaftlichen Privilegien beraubt. Die aber damals auf Zivilisten schossen, bekamen hohe Orden. Erst kürzlich hat Verteidigungsminister Jasow Schaposchnikow rehabilitiert und ihm alle Rechte und Auszeichnungen zurückgegeben.

Daß dieser Mann einstimmig von uns gewählt wurde, weist auf eines unserer Hauptziele hin: zu verhindern, daß die Armee jemals gegen das eigene Volk oder gegen die Zivilbevölkerung anderer Länder eingesetzt wird. Die Wahl dieses Mannes zeugt außerdem davon, daß unser Verband die Perestroika unterstützt. Wir wollen verhindern, daß die Situation in unserem Land sich allmählich zu einer Art Militärherrschaft entwickelt, wie es zum Beispiel in Polen der Fall war. Wir sind für eine Fortsetzung der Initiativen des Zentralkomitees und von Michail Sergejewitsch (Gorbatoschw, d.Red.). Und wir nehmen dabei auch die bisherigen Fehler und Inkonsequenzen in Kauf, solange diese Entwicklung nur in einem „zivilen Flußbett“ verläuft: unter Beteiligung jener fortschrittlichen Elemente in der Gesellschaft, die schon heute beträchtlichen Einfluß auf einen Teil unserer Streitkräfte ausüben.

Trifft denn die Idee einer Armee-Gewerkschaft in der Öffentlichkeit auf Verständnis?

Bisher sind in der sowjetischen Presse insgesamt sieben Artikel über uns erschienen, zum Beispiel in 'Moskowskie Novosti‘, 'Iswestija‘, 'Trud‘, 'Nowoe Wremja‘, die allesamt positiv waren. Wir wissen, daß die Armeezeitung 'Krasnaja Swesda‘ einen mißbilligenden Beitrag über unseren Verband vorbereitet hat, der aber bisher nicht veröffentlicht wurde. Unser Gründungskongreß wurde vom „Fonds für soziale Erfindungen“ der 'Komsomolskaja Prawda‘ mitfinanziert. Auch große staatliche Organisationen unterstützen uns. Ich möchte sie aber nicht nennen, weil der Kontakt zu uns auch für sie bislang nicht ungefährlich ist.

Gegenwärtig geht unser Verband auf wie Hefe. Die soziale Basis für unseren Verband umfaßt nach Schätzungen von Soziologen etwa zehn Millionen Menschen. Wann wir diesen Mitgliederumfang erreichen, ist meiner Ansicht nach nur eine Frage der Zeit. Wir freuen uns, daß schon fünf Abgeordnete des Kongresses der Volksdeputierten unserem Koordinationskomitee angehören. Das erste Ziel, das wir mit ihrer Hilfe verfolgen werden, ist eine Änderung des Gesetzes über Arbeitskonflikte, und zwar des Artikels 92, Absatz 12, wo es heißt: „Das Recht zur Gründung von Gewerkschaften haben Arbeiter und Angestellte.“ Wir möchten, daß hier das Wörtchen „und Wehrdienstleistende“ hinzugefügt wird.

Da man uns bisher als Verband die Einrichtung eines Kontos und die juristische Registrierung verweigert hat, ist eine Gruppe von Mitgliedern am 9.Dezember schon einen Schritt weiter gegangen und hat als Gewerkschaft ein Konto beantragt.

Sind Ihre Ziele rein gewerkschaftlich oder auch politisch?

Wir sind für eine Änderung der sowjetischen Militärdoktrin, für die bisher die Leitung der Armee durch die Partei der Stein der Weisen war. Wir meinen, daß die bewaffneten Streitkräfte nicht der KPdSU, sondern dem Obersten Sowjet der UdSSR unterstehen und nach rechtsstaatlichen Prinzipien geleitet werden sollten. Warum? Weil in der Armee gerade durch das stillschweigende Einverständnis der Parteifunktionäre die Korruption, die Vetternwirtschaft, die Jubiläumsseligkeit und andere Erscheinungen verstärkt werden. Die Parteifunktionäre nehmen nämlich in der Armee eine Sonderstellung ein und beeinflussen deren moralisches Klima - gelinde gesagt - nicht gerade positiv. Sie treffen ihre Entscheidungen zum Teil im eigenen Interesse und nicht in dem der Streitkräfte, und das trägt nicht gerade zur Effektivität der Armee bei. Deshalb hat uns übrigens so mancher im Grunde konservative Kommandeur ganz gern, dem die Politkommissare zum Hals heraushängen.

Wir vertreten nun die konstruktive Position, alle Politfunktionärsposten abzuschaffen - und davon gibt es in der Armee Zehntausende. Wir sind dafür, das Dutzende Armeepolitschulen zu schließen und die Politabteilungen in den Militärakademien abzuschaffen. Eine solche Institution, die im Bürgerkrieg, ja vielleicht sogar im zweiten Weltkrieg noch irgendwie zu rechtfertigen war, hat sich heute, wo die Armee nun schon 40 Jahre unter Friedensbedingungen existiert, offensichtlich überlebt. Allerdings muß die Armee dann völlig neu organisiert werden, damit ein Gegengewicht zu den Kommandeuren entsteht, von denen nicht wenige richtige „Kommißköppe“ sind. Die Forderung der „Überregionalen Deputiertengruppe“ nach einem Berufsheer leuchtet uns ein. Aber wir wollen unserem Volk nicht vorschreiben, was für eine Armee neuen Typs es konkret braucht - ob das nun eine Art Miliz sein muß, eine zahlenmäßig stark verminderte Variante der heutigen Truppen, oder ein Berufsheer. Um eine solche Frage zu beantworten, müßten wir über Fakten verfügen. Diese Fakten werden aber geheimgehalen - unter anderem auch vor unserem Volk.

Die Kirchensekretärin einer Moskauer Gemeinde hat mir einmal erzählt, daß sich viele Eltern seit dem Afghanistan -Krieg wieder dem Christentum zuwenden, wenn ihre Söhne eingezogen werden. Sie können den Gedanken an die Schikanen und körperlichen Entbehrungen, denen ihre Kinder beim Militär ausgesetzt sind, nicht ohne geistlichen Zuspruch ertragen.

Die Mütter verabschieden heute ihre Söhne zum ganz gewöhnlichen Grundwehrdienst, als ob diese in einen richtigen Krieg zögen. Wir wissen nicht, wieviele Soldaten jährlich in der Armee umkommen, wieviele junge Leben bei den Streitkräften verdorben werden. Wir wissen nicht, wieviele Leute direkt aus den Reihen der Armee in die Gefängnisse wandern, weil sie beim Militär in irgendwelche Konflikte hineingeraten sind. Und letztlich wissen wir nicht einmal, wie hoch die Mittel sind, die bei uns für Verteidigungszwecke aufgewendet werden.

Zehn Jahre lang hat man uns erzählt, es seien 20 Milliarden Rubel, jetzt heißt es 77 Milliarden. Aber: wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Für uns sind diese 77 Milliarden einfach nur die neueste Angabe, und wer weiß, was man uns als nächstes erzählt. Es ist schon rätselhaft, wie wir bei solch bescheidenen Ausgaben unsere strategische Parität mit den Vereinigten Staaten wahren konnten. Bestimmt sind viele Zahlen über die Armee, die heute veröffentlicht werden, wesentlich untertrieben. Viele Offiziere, die in Afghanistan gedient haben, versicherten mir, daß die Opfer dieses Krieges auf unserer Seite bei weitem jene 15.000 übersteigen, die man hier bisher ausfindig gemacht hat. Wenn zum Beispiel ein schwer Verwundeter vor dem Tod noch ins Krankenhaus geschafft werden konnte, galt er schon nicht mehr als im Kampf gefallen.

Um der Wahrheit wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, ist deshalb die Veröffentlichung eines Buches mit den Namen aller in Afghanistan Gefallenen unerläßlich. Es gefällt uns gar nicht, daß nur Politiker, die sich schon im Jenseits befinden, wie Gromyko, Breschnew, Ustinow, Suslow, für das afghanische Abenteuer verantwortlich gewesen sein sollen. Ist denn niemand von den aktiven Partei- und Staatsfunktionären und Militärchefs für diesen unersetzlichen Verlust mitverantwortlich? Und ich rede hier nicht nur von den Toten, sondern von der moralischen Wunde, die unsere Streitkräfte davongetragen haben - durch den über zehn Jahre aufrechterhaltenen Auftrag der Gesellschaft zu einem offensichtlich ungerechten Krieg.

Wie propagieren sie Ihre Ideen?

Unsere heutigen Losungen auf Meetings und Demonstrationen lauten: Für eine weitergehende Demokratisierung und Humanisierung der Streitkräfte der UdSSR! Schluß mit Protektionismus, Vetternwirtschaft und Korruption in den Reihen der Armee! Auf wessen Seite stehst du, Armee? Solche Parolen stoßen in Soldatenkreisen auf Beifall, bisweilen sogar auf mittlerer und höherer Parteiebene, ganz zu schweigen von den vielen informellen Gruppen. Heute unterhalten wir uns mit der taz hier in einem Auto auf der Landstraße, und das heißt ganz konkret, daß es bislang nicht ungefährlich ist, unserem Bund anzugehören. Sich mit den Vorgesetzten anzulegen war noch nie günstig.

Nach einer Direktive des Verteidigungsministeriums, die dem Artikel 51 unserer Verfassung über die Organisationsfreiheit der Bürger widerspricht, ist es den Wehrdienstleistenden verboten, in informelle Gruppen einzutreten - oder gar eigene Kooperativen zu gründen. Ein Wehrdienstleistender kann sich auch seinen Dienstort nicht aussuchen, sondern muß gehen, wohin ihn die Vorgesetzten schicken. Das bedeutet für alle progressiven Elemente in der Armee, daß sie derselben Bedrohung ausgesetzt sind wie in der schlimmsten Stagnationszeit (d.h. in der Breschnew-Ära, d.Red.).

Ein Angehöriger der Armee darf nur dann eine höhere Akademie besuchen, wenn er einen bestimmten Rang erreicht hat. Das allein reicht aber bei weitem nicht aus, dazu müssen einen die Vorgesetzten noch in der Liste der ihnen genehmen Leute führen, und schließlich muß man noch selbst in die Akademie fahren, um eine bestimmte Bestechungssumme abzuliefern. Und wenn du dann dort studierst, mußt du bis zum Examen aufpassen, daß sie dir nicht deinen Parteiausweis klauen oder dir die Hosen aufschlitzen. In dieser Hinsicht herrschen in unseren Streitkräften noch Sitten wie im Wilden Westen. Die Armee ist bei uns ein Staat im Staate, sie lebt ihr eigenes Leben, und von Wandel spürt man hier weniger als irgendwo sonst.

Unter diesen Bedingungen ist die Existenz Ihrer Organisation ein Wunder.

Natürlich ist etwas Unwahrscheinliches geschehen: nach 72 Jahren Sowjetmacht taucht plötzlich ein informeller Zusammenschluß von Soldaten auf, tritt als Opposition zum Verteidigungsministerium auf, stellt eigene Fragen und verleiht der Meinung eines Großteils von Armeeangehörigen Ausdruck. Wir suchen nach energischen und anständigen Persönlichkeiten, gebildet und aufnahmefähig genug, um sich mit der ganzen Skala der heute bei uns existierenden politischen Strömungen und neuen Alltagserscheinungen differenziert auseinanderzusetzen. Sie sollten bereit sein zu sichten, was von alledem wir für unseren Bund nutzen können. „Schtschit“ ist eine Organisation neuen Typs, die sich vor keinerlei Kritik fürchtet und alle Anregungen bereitwillig aufnimmt.

Zu Diskussionen eingeladen wurden wir bisher von der Führung des Verteidigungsministeriums, von der politischen Hauptverwaltung der sowjetischen Armee und der Kriegsflotte, und letztere schlug auch ein Treffen mit dem Lehrkörper der Lenin-Akademie für Militärpolitik vor. In allen drei Fällen waren wir interessiert und sagten zu, aber jedesmal wurden die Veranstaltungen von der anderen Seite abgesagt. Warum? Weil die Militärbehörden verknöchert sind. Die Umgebung des Verteidigungsministers und die Leute in der politischen Hauptverwaltung haben in den Jahrzehnten, in denen sie gleichgerichtet denken mußten, jeglichen Spaß an der politischen Auseinandersetzung verloren. Die Generalität befindet sich im Zustand der Atrophie und ist nicht fähig, uns zu begegnen. Unsere Opponenten stehen da wie begossene Pudel: weder haben sie etwas auf der Seele noch Ideen im Kopf.

Und wenn die Spitze des Verteidigungsministeriums jetzt an die Verringerung der Kontingente und des Offiziersstabes geht, so geschieht das im Geiste beklagenswerter Traditionen, die aus der Chruschtschow-Zeit. Mein persönlicher Eindruck ist jedenfalls, daß diese ganzen Kürzungen ohne Ruder und Kompaß vorgenommen werden. Natürlich ist das auch eine Frage des Führungspersonals, das nicht rechtzeitig ausgewechselt wurde. Daher unsere Losung: die Breschnewschen Generäle und Marschälle in den Ruhestand!

Man muß sich einmal vergegenwärtigen, daß es in der Stagnationszeit mit der Armee soweit gekommen ist, daß sie keinen einzigen richtigen Militärgelehrten vorzuweisen hat. Wo haben wir heute denn noch Leute wie Frunse, Tuchatschewskij, Jakir - Denker, wie sie an der Wiege der Roten Armee standen? Alle Leute mit entsprechenden Fähigkeiten hat man hinausgeekelt, und heute fehlen sie. Die Militärführung muß nun die Früchte der jahrelangen Zwangsherrschaft in unseren Streitkräften ernten. Aber die Armee ist dem Volk mittlerweile entfremdet, hat schon längst den Geschmack an der Zusammenarbeit mit dem eigenen Volk verloren. Wir können die Situation nur zum besseren wenden, wenn die Armee ihr ganzes Elend offenlegt und wenn wir gemeinsam überlegen, wie man das alles heilen kann. Man muß alles tun, um der Armee ihr in den Stagnationsjahren verlorenes Prestige zurückgeben.

Sie vertreten auch die Streitkräfte des Innenministeriums, die in Konflikten „ohne Ansehen der Nationalität“, wie in Berg-Karabach, eingesetzt werden. Im Oktober hat sich Generalmajor Grijenko in der 'Iswestija‘ beklagt, daß die provisorische Unterbringung und monatelange Trennung der Soldaten des Innenministeriums von ihren Familien inzwischen schwer erträgliche Formen annehmen, ebenso die psychische Belastung durch Provokationen.

Von den Krankheiten der Streitkräfte und dem Mangel an sozialer Fürsorge sind alle Arten von Einheiten gleichermaßen betroffen. Was nun die Truppen des Innenministeriums betrifft, so muß man sehen, daß ihr Einsatz immer alltäglicher wird, weil die soziale Spannung in unserer Gesellschaft von Tag zu Tag wächst. Und die gegenwärtige zahlenmäßige Aufstockung dieser Streitkräfte verleiht ihren Problemen zusätzliches Gewicht. Der Innenminister Bakatin stellt dazu gar nicht so dumme Überlegungen an: Er hat die soziale Notlage dieser Truppen begriffen und versucht so etwas wie einen „Armeeverband von oben“ zu schaffen - unter Führung des Innenministeriums.

Natürlich fänden wir es besser, wenn sich so ein Verband von unten herausbildet. Für die Soldaten des Innenministeriums in Armenien, Aserbaidschan und Berg -Karabach gelten nicht einmal halbwegs normale Bedingungen, was Unterbringung, Urlaub und sogar Verpflegung betrifft. Außerdem leben sie unter Dauerstreß. Ihre Eingewöhnung dort stößt auf die Schwierigkeit, daß sich solche nationalen Konflikte in keiner historischen Epochen mit Hilfe des Militärs, sondern immer nur politisch lösen ließen. Nun hat aber das Nationalitätenplenum des ZK der KPdSU unter dem Strich keinerlei Resultate hervorgebracht. Das führte für die Leute in den Truppen des Innenministeriums zu immer neuen Schwierigkeiten. Diese Menschen brauchen sehr viel Takt und Einsicht angesichts von Problemen, die sie ja schließlich nicht selbst verursacht haben. Die Situation während der Eisenbahnblockade Armeniens durch Aserbaidschan war die Vorstufe zum Kriegszustand im ganzen Lande, und deshalb sind hier vor allem Moskau, Eriwan und Baku aufgerufen, durch politische Maßnahmen wenigstens fürs erste die Spannungen zwischen den Nationalitäten abzubauen. Denn die sind heute ein mehr als ernstzunehmendes Hindernis auf dem Wege unseres Landes zur Erneuerung.

Wir sind übrigens sehr froh darüber, daß der Reformprozeß in unserem Lande sich schließlich so grundlegend auf den Gang der Ereignisse in der DDR ausgewirkt hat. Wir sind froh, daß die Berliner Mauer neue Löcher hat und daß innerhalb des deutschen Volkes eine freie Kommunikation möglich geworden ist. Wir sind froh, daß die reaktionäre DDR -Führung mit Erich Honecker an der Spitze zurückgetreten ist. Gleichzeitig möchten wir unterstreichen, daß Michail Sergejewitsch Gorbatschow dabei eine wichtige Rolle gespielt hat, denn soweit uns bekannt ist, hat er Erich Honecker zu diesem Schritt geraten. Wir freuen uns auch, daß die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten jetzt zur militärischen Entspannung in Europa beitragen.

Wie verhalten Sie sich zu den Demonstrationen und Hungerstreiks von Rekruten vor allem in den Staaten des Baltikums und im Kaukasus? Die Rekruten wollen ja ihren Wehrdienst künftig nur noch in ihren jeweiligen Heimatrepubliken ableisten, weil sie sich auf fremdem Boden vor Schikanen fürchten.

Diese Forderung läßt sich heute wohl schon von den Erfordernissen der unterschiedlichen Waffengattungen her sehr schwer erfüllen. Man braucht für alles Spezialisten, und der Dienst an Orten, die von allen Zentren der Zivilisation weit entfernt sind, ist sehr wichtig. Diese Orte befinden sich aber vor allem in Sibirien und im Osten der Russischen Föderativen Sowjetrepublik. Abgesehen von solchen Notwendigkeiten sollte man die Leute ohnehin nicht allzuweit entfernt von ihrer Heimat einsetzen.

Wenn, wie erwähnt, die Mütter ihre Söhne weinend in die Armee verabschieden und sich nicht sicher sind, ob sie sie jemals lebend wiedersehen, kann man verstehen, wenn die baltischen Staaten ihre eigenen Truppen aufstellen wollen, denn in unserem Heer kann angesichts dieser Zustände weder von Ordnung noch von Disziplin die Rede sein. Hier müßte man ansetzen. Man kann nämlich das Problem durchaus im Rahmen der bestehenden Gesetze lösen. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß gebildete und für psychologische Probleme sensible Kommandeure in ihren Abteilungen immer verhindern konnten, daß Konflikte zwischen den Nationalitäten ausbrechen. In einer humanen Armee, die kein seelenloser Kasernenmechanismus mehr wäre, könnte man solche Spannungen durchaus auflösen.

Zusätzlich bin ich allerdings dafür, daß ein alternativer Dienst, zum Beispiel auf Großbauprojekten, für Menschen eingerichtet wird, die aus den verschiedensten Gründen keine Waffe in die Hand nehmen möchten. Das gibt es ja auch schon in Polen und Ungarn, und wir wären damit auch bei uns mit einem Schlag eine Menge von Problemen los.

Sie haben Ihr Prinzip erwähnt, daß die Armee nicht gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt werden soll. Die Untersuchungskommission des georgischen Obersten Sowjet hat inzwischen ergeben: Verteidigungsminister Jasow war über den Einsatz von Truppen gegen friedliche Demonstranten in Tbilissi am 20.April dieses Jahres soweit informiert, daß man ihn für die blutigen Konsequenzen mitverantwortlich machen muß. Wie ist Ihr Verhältnis zu dieser Gestalt?

Dieses Verhältnis ist alles andere als eindeutig. Der Armeegeneral Dmitrij Timofejewitsch Jasow ist ja dank eines Vertreters Ihres Staates an die Spitze der Armee gelangt. Wäre der Genosse Matthias Rust nicht auf dem Roten Platz gelandet, hätte man seinen Vorgänger, General Sokolow, nicht so leicht absetzen können. Dieser hat allerdings zwei Söhne, die in der Armee schon hohe Ränge einnehmen, und erlitt im übrigen nicht den geringsten materiellen Nachteil. Und Dmitrij Timofejewitsch Jasow ist nun insoweit ein wirklich neuer Mann, als er sein Handwerk ziemlich gut beherrscht und nie den Kontakt zu den Politorganen vernachlässigt. Gleichzeitig ist er natürlich ein Produkt der Vergangenheit und von den gleichen Lastern gezeichnet wie unsere Armee insgesamt.

Will man Jasow aber loswerden, sollte man zuerst einmal überlegen, wer an seine Stelle treten könnte. Und da kommen folgende Leute aus seiner Umgebung in Frage: Armeegeneral Kotschetow, der den Moskauer Wehrbezirk kommandiert hat, ebenso General Luschow und schließlich General Gromow, der noch vor gar nicht langer Zeit unsere Truppen in Afghanistan kommandierte und den die Zeitung 'Sowjetskaja Rossija‘ über den grünen Klee lobt. Das sind alles, sagen wir einmal, „konservative“ Männer. Dmitrij Timofejewitsch Jasow hat immerhin den Vorteil, daß er andern gut zuhört und sich manchmal auch etwas sagen läßt. Er ist schon 66 Jahre alt, und der nächsten Regierung, die in vier Jahren gebildet werden soll, wird er wohl kaum mehr angehören. Michail Gorbatschow hat einmal gesagt, man müsse jedem Menschen eine Chance geben. Und ich meine, da ihm der Oberste Sowjet nun einmal trotz mancher Inkonsequenzen bei der Reform der Armee das Vertrauen ausgesprochen hat, soll Dmitrij Timofejewitsch in diesen, seinen letzten, Dienstjahren doch ruhig zeigen, daß er dieses Vertrauen auch verdient. Leider hat er sich als Mitarbeiter Leute ausgesucht, in deren Munde das Wort „Perestroika“ zur Parodie gerinnt. Deshalb sollte General Jasow wissen, daß der scharfe und wachsame Blick des Verbandes „Schtschit“ auf ihm ruht.

Interview: Barbara Kerneck