Trauer um einen „guten Menschen“

Der Tod Sacharows hat in der Moskauer Öffentlichkeit bestürzte Reaktionen hervorgerufen / In einigen Betrieben wurde die Arbeit kurzzeitig unterbrochen / „Wie soll es ohne ihn weitergehen?“  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich am Freitag vormittag die Nachricht von Andrej Sacharows Tod über die Moskauer Telefone. Einige hatten die relativ spärlichen Meldungen im Rundfunk aufgefangen und gaben den Kommentar des Akadmiemitgliedes Dmitrij Lichatschow weiter: „Die Nation hat ihren moralischen Kompaß verloren.“ Weitere, andere fragten: „Ist es wirklich wahr?“ In Betrieben und Instituten wurde die Arbeit zeitweilig unterbrochen, um die unfaßbare Nachricht zu diskutieren. Die Verblüffung der Moskauer Öffentlichkeit angesichts dieses Geschehens beweist, daß Andrej Sacharow gerade in diesem Moment als eine unverzichtbare öffentliche Gestalt empfunden wurde. „Er war einfach ein guter Mensch und ein politischer Führer, und wir wissen kaum, wie es ohne ihn weitergehen soll“, sagt ein alter Mann in einer bescheidenen Webpelzmütze. Er steht mit etwa hundert anderen Personen vor Sacharows Wohnhaus in der Uliza Tschkalova. Er ist Arbeiter in einer Plastikfabrik und betont: „Die Arbeiter haben immer von Sacharows Existenz gewußt und mit ihm mitgelitten, auch in den Jahren der Verbannung und des Exils.“ „Vielleicht nicht unbedingt ein politischer Führer, aber der anständigste aller Menschen, uns ist einfach schrecklich traurig zumute“, kommentieren einige Sekretärinnen aus einem benachbarten Chemieinstitut, die auf die Straße geeilt sind. Das Bild an der Hauswand, vor dem Kerzen brennen und Blumen niedergelegt werden, zeigt Andrej Dmitrijewitsch Sacharow mit der in letzter Zeit für ihn so charakteristischen Haltung: Er hält eine gewölbte Handfläche vor das Kinn, als wisse er nicht, ob er damit die Ohren oder die Augen bedecken solle. Sein unbewußter Wunsch nach Ruhe kam schließlich in kleinen Fluchtbewegungen zum Ausdruck, die sein geschärftes Bewußtsein immer wieder überwand. So wurde er Mitglied einer fast unüberschaubaren Anzahl von Kommissionen und Ausschüssen. Als ihn kürzlich der Leningrader Untersuchungsrichter Gdlajn im kleinen Kreise als Vorsitzenden der zukünftigen „Komission für Verfassungsfragen“ vorschlug, lehnte Sacharow müde ab: „Was soll ich denn beaufsichtigen, wenn wir noch gar keine richtige Verfassung haben!“ Aber Gdlajn insistierte: „Wenn Andrej Dmitrijewitsch etwas gerecht nennt, dann glaubt das Volk auch, daß es gerecht ist!“

Als den beliebtesten Politiker in den Reihen ihrer Leserschaft ermittelte in diesem Herbst die Zeitschrift 'Argumenty i Fakty‘ den ehemaligen Leser Andrej Sacharow. Dem Chefredakteur des Blattes mit einer Auflage von 20 Millionen Exemplaren wurde wegen der Veröffentlichung dieser Umfrage von höchster Stelle mit Entlassung gedroht. Die Integration Andrej Sacharows in das Deputiertenestablishment war immer ein äußerlicher Burgfrieden. Wenn der Ministerpräsident der Russischen Föderation, Witalij Worotnikow, und Jegor Ligatschow am Freitag anläßlich der Schweigeminute im Kongreß der Volksdeputierten Worte der Trauer sprachen, so besiegelten diese eine Periode der harten Konfrontation. Noch im Frühsommer dieses Jahres hatte die Mehrheit des Kongresses Sacharow niedergebrüllt, als er Verbrechen im Afghanistankrieg anprangerte. Die „Präsemption der Schuld“ gegenüber den Herrschenden, wie sie kürzlich der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Sowjets, Lukjanow, definierte, hielt sich im Falle Sacharow besonders hartnäckig. „Endlich haben sie ihn geschafft!“ Kommentare dieser Arte waren am Freitag auch aus der Menge vor dem Wohnhaus zu hören.

Hierher pilgern nun viele der „Erniedrigten und Beleidigten“, um die sich Sacharow in ruhmloser Kleinarbeit sein ganzes Leben lang verdient gemacht hat. „Zehn Jahre hat er mit den Behörden um mich gekämpft und hat es schließlich geschafft, mich aus der Klapsmühle herauszuhohlen“, meint ein rotbäckiger Mann dankbar, „gewiß bin ich nur einer von Hunderten und vielleicht von Tausenden.“ „Sacharows Aufruf zum Streik gegen die führende Rolle der Partei war richtig“, meint ein Leutnant im Ruhestand, seit 35 jahren Parteimitglied, „die Tagungen des Kongresses der Volksdeputierten zeigen, daß ohne solchen Druck wieder alle wichtigen Fragen verschleppt werden. Ich persönlich akzeptiere seinen Tod als persönliches Vermächtnis und werde aus der Partei austreten.“