Sacharow - ein Kämpfer bis zuletzt

■ Gestern starb der bekannteste sowjetische Menschenrechtler an Herzversagen / Sacharow war gerade dabei, sich auf die Auseinandersetzung über das Machtmonopol der KPdSU vorzubereiten

Berlin (taz) - Es war ein grauer, verhangener Dezembertag des Jahres 1986, als es unverhofft an der Wohnungstür von Andrej Sacharow und Jelena Bonner klingelte. „Morgen werden Sie einen sehr wichtigen Anruf bekommen“, erklärte ein KGB -Offizier und betrat in Begleitung von zwei Elektrikern die Wohnung, die Sacharow bewohnte, seit er 1980 von Moskau nach Gorki, der für Ausländer verbotenen Rüstungsstadt, verbannt worden war. Am nächsten Tag gab es zwei weitere Überraschungen. Die erste: Das neuinstallierte Telefon funktionierte. Die zweite: Michail Gorbatschow persönlich rief an. „Die Regierung hat beschlossen, Ihr Exil zu beenden und Jelena Bonner zu begnadigen, so daß Sie beide nach Moskau zurückkehren können.“

Die neue sowjetische Führung hatte beschlossen, Frieden mit dem Mann und der Frau zu schließen, deren Schicksal seit Jahren die westliche Presse, die Oppositionellen und die Sicherheitsorgane im eigenen Land beschäftigte. Kurz vor einer für Februar 1987 geplanten Großveranstaltung für Intellektuelle aus aller Welt, zu der Tausende Wissenschaftler und Künstler nach Moskau geladen waren, konnte das Angebot des Parteiführers noch leicht als Taktik angesehen werden. Denn ohne Sacharow hätte diese Veranstaltung nicht überzeugen können; sollte sie doch zeigen, welcher Wandel in der Sowjetunion vor sich geht und wie ernst es Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika meinte. Der Bann war gebrochen. Andere Dissidenten wurden aus Gefängnissen und Lagern geholt und in die neue Freiheit entlassen. Viele begannen nun ernsthaft an Glasnost und Perestroika zu glauben.

Aber noch auf dieser Veranstaltung war Sacharow isoliert. Keiner seiner sowjetischen Kollegen wendete sich ihm offen zu. Damit setzte sich das bisher übliche Verhältnis der sowjetischen Gesellschaft, auch der Wissenschaftler, zu ihren Dissidenten fort. Wer mit ihnen Umgang hatte, geriet selbst in möglicherweise folgenschweren Verdacht.

Sacharows Karriere hatte glänzend und früh begonnen. Der 1921 geborene erreichte schon mit 32 Jahren den Zenit einer sowjetischen Wissenschaftlerlaufbahn: Er wurde „Akademik“, also Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften das jüngste Akademiemitglied der sowjetischen Geschichte. Als einer der ersten in seinem Lande beschäftigte er sich mit der unfriedlichen und friedlichen Nutzung der Atomenergie. 1947 hatte er bei Igor Tamm über kosmische Strahlen promoviert. Im Jahre 1950 gelang dem Team Tamm/Sacharow eien kontrollierte thermonukleare Reaktion; 1953 zündete die Sowjetunion ihre erste Wasserstoffbombe. Die Sowjetunion erlangte damit einen kurzzeitigen Rüstungsvorsprung. Noch 1969 arbeitete der nun hochdekorierte und alle Privilegien genießende Sacharow im Bereich der Teilchenpyhsik unter anderem über Quarks und Antiquarks im Universum.

Längst aber schon hatte Sacharow begonnen, sich politisch zu exponieren. 1953 dachte er öffentlich über die unerfreulichen Auswirkungen seiner eigenen Erfindung nach und warnte vor den Folgen eines Atomkrieges. So war er einer der Initiatoren des Moskauer Vertrages von 1963 zwischen Chruschtschow und Kennedy, der überirdische Atomversuche verbot. Hatte sich Sacharow damit bereits mit einigen Rüstungsfachleuten angelegt, so geriet er mit dem spätstalinistischen Establishment in Konflikt, als er den sogenannten Biologen Lyssenko öffentlich einen Scharlatan schalt. Endgültig auf Konflikturs ging er, als er 1968 seine „Gedanken über den Fortschritt, die friedliche Koexistenz und die geistige Freiheit“ in der 'New York Times‘ veröffentlichte. Dort verkündete er: kein wissenschaftlicher Fortschritt ohne geistige Freiheit; sie ist unmittelbares Interesse jedes Wissenschaftlers; dieses aber setzt ungehinderten Austausch voraus. Dafür notwendig sind Entspannung. Aber die Sowjetunion mußte erst entspannungsfähig werden. Dafür brauchte sie gesellschaftliche und politische Reformen, deren Kern die Achtung der Menschenrechte gewesen wäre. Sacharows Radikalität als Wissenschaftler setzte ihn so in Konflikt zu den politischen Realitäten seines Landes.

Sein Weg in die Dissidenz beschleunigte sich seit 1970 durch seine Ehe mit Jelena Bonner. Im gleichen Jahr war er Mitbegründer des „Komitees für Menschenrechte“. Die daraufhin gegen ihn geführte Kampagne steigerte sich noch, als ihm 1975 der Friedensnobelpreis zuerkannt wurde. Seine Akademikerkollegen schlossen ihn zwar trotz allerhöchster Aufforderung nicht aus der Akademie aus - die dortigen Abstimmungen waren die einzigen wirklich geheimen im ganzen Land. Aber öffentlich distanzierten sie sich immer wieder von ihm.

Sacharow und Bonner, über deren Hungerstreiks in der gemeinsamen Verbannung in Gorki immer wieder in den westlichen Medien berichtet wurde, waren nun endgültig zu politischen Symbolen geworden, die im Westen auch stratetgisch einsetzbar waren. Der Verdacht, daß es dabei nur vordergründig um die Menschenrechte ging, daß das Ehepaar Sacharow/Bonner nur Schachfiguren im Propagandakrieg der feindlichen Systeme waren, lag nahe. Auch große Teile der westlichen Linken reagierten auf symbolischer Ebene und glaubten, sich mit den politischen Inhalten der beiden nicht inhaltlich auseinandersetzen zu müssen, sondern sie als Antikommunisten abstempeln zu können.

Mit der Entfaltung des sowjetischen Reformprozesses wurde Sacharow allerdings als dessen Vordenker erkennbar. Abrüstung, die Trennung von Staat und Partei, Rechtsstaatlichkeit, Wissenschafts- und Pressefreiheit, die Anerkennung nationaler Rechte usw. waren immer schon Kernpunkte des Engagements Sacharows gewesen. Allerdings blieb er eine politisch treibende Gestalt. Er forderte beim Auftauchen des Konflikts sofort eine gerechte Lölsung des Problems von Nagorny-Karabach, er forderte die Abschaffung des Machtmonopols der KPdSU und ein Mehrparteiensystem immer wenn ein Konflikt auftauchte, drängte er auf eine grundsätzliche Lösung. Gerade mit dieser Radikaliät machte er sich aber auch weiterhin nicht nur Freunde.

Seine Forderung nach einem Generalstreik zur Abschaffung des Machtmonopols der KPdSU wurde auch von seinen engsten Freunden nicht mitgetragen und brachte ihn in einen schweren Konflikt mit Gorbatschow. Wäre man abergläubisch, könnte man einen symbolischen Zusammenhang zwischen seinem Tod und seinen letzten Kämpfen ziehen: Er starb in der Nacht vom Donnerstag zum Freitag, während er eine Rede über die Trennung von Staat und Partei vorbereitete.

Erich Rathfelder/Erhard Stölting