Keine engdeutsche Sicht und schon gar nicht „Tschüß Gorbi“!

Erwartungen an eine deutschlandpolitische Orientierung der SPD  ■ D E B A T T E

Man könnte sich die Haare raufen: Auf keinem Politikfeld hat die SPD in der Vergangenheit so risikofreudig, kontinuierlich und unbeirrt eine unverwechselbare Linie durchgehalten wie in der Ost- und Deutschlandpolitik. Und ausgerechnet jetzt, wo in ganz Osteuropa entfesselte Emanzipationskräfte die Ziele dieser Politik in Wochen weiterbringen, als sie bisher in Jahrzehnten vorangekommen sind, verlieren die Sozialdemokraten - ich bin sicher: vorübergehend - die Orientierung.

In der Frage deutsch-deutscher Perspektiven hat es seit jeher in unserer Republik eine große Bandbreite von Meinungen gegeben. Sie spiegelte sich in der SPD. Die innerparteilichen Reserven gegen das SPD-SED-Papier zur Streitkultur kamen zum Beispiel immer mal wieder zum Vorschein. Die Ferne irgendwelcher deutscher Einheitsvisionen zwang die Partei in diesem Punkt nicht zu einem verbindlichen Konsens. Der 9. November legte dann bloß, daß sich (um es verkürzt auszudrücken) Zweistaatler, Konföderisten und Einheitsstaatler in gleicher Weise von der Entwicklung bestätigt fühlten. Jetzt machte sich eine nicht zu Ende geführte Meinungsbildung plötzlich negativ bemerkbar. Die Leute wußten nicht mehr, was die SPD eigentlich will. Rasch aufeinanderfolgende Gremienpapiere und sich jagende Stellungnahmen signalisierten Klärungsbedarf.

Den verspürte auch CDU-Chef und Kanzler Kohl, der in den Reihen seines Lagers dieselben Diffusitäten, wenn auch in einem anderen Spektrum, ausmachte. Er löste das Problem am 28. November in absolutistischer Manier. Der bis zu seiner Verkündigung sorgsam abgeschirmte höchsteigene 10-Punkte -Oktroy formierte auf einen Schlag die eigenen Reihen. Ein Erfolg mit hohem Preis: Die Nichtabstimmung mit Ost und West trieb die Bundesrepublik in die Isolierung, gegen die Genscher seither vergebens anreist. Kohl kümmert das nicht: Die Staatsräson war ihm schon immer schnuppe, wenn es um seinen Machterhalt ging. Und in dieser Hinsicht landete er einen Coup.

Sehr zum Ärger vieler Sozialdemokraten half ihm dabei die SPD-Bundestagsfraktion mit ihrer spontanen und dann stückweise relativierten Zustimmung zu seinen 10 Punkten. Objektiv war es vielleicht der unbewußte Versuch, auf diese Weise die auseinanderlaufende Meinungsdrift unter den Sozialdemokraten zu kanalisieren. Die Zustimmung sollte aber auch signalisieren: In Fragen solcher Tragweite wollen wir zu parteiübergreifender Gemeinsamkeit beitragen. Wieder einmal hatten die Sozialdemokraten das Ganze im Sinn, während der Kanzler mehr an den 9. Dezember 1990 dachte. Seine Wahlkampfstrategen waren schon dabei zu überlegen, wie man der SPD den Honecker anhängen und die CDU mit dem Weihemantel der deutschen Einheit schmücken könnte.

Aber zurück zu den Sozis und ihrer Suche nach Orientierung und Rückgewinnung der Initiative. Schaffen soll dies jetzt der Berliner Parteitag vom 18. bis 20. Dezember, auf dem sich die SPD exakt 30 Jahre nach Godesberg ein neues Grundsatzprogramm geben wird. Ihm liegt eine „Berliner Erklärung“ unter dem Titel „Die Deutschen in Europa“ als Beschlußgrundlage vor, verfaßt vom Präsidium und über weite Strecken nun doch klar von Kohls 10 Punkten unterscheidbar. In Berlin wird sich die SPD deutschlandpolitisch festlegen.

Anders als im Kohl-Konzept nuschelt diese Erklärung nicht etwas von Selbstbestimmung, um dann in einem exakten Stufenplan die Marschroute zur staatlichen Wiedervereinigung vorzugeben.

Trotzdem werden viele Delegierte mit eilends verfaßten Änderungs- und Ergänzungsanträgen nach Berlin reisen. Sie wundern sich über einen gewissen engdeutschen Grundton der Erklärung, die den inzwischen noch unauflöslicher gewordenen Zusammenhang von deutschen Perspektiven und der Zukunft Osteuropas nicht ausreichend deutlich macht. Da fängt die Erklärung gleich an mit der Freude über die demokratische Revolution auf deutschem Boden und schildert, was Sozialdemokraten alles dazu beigetragen haben - aber wo bleibt der Hinweis darauf, daß sich weder in Warschau noch in Budapest, Berlin-Ost, Prag oder Sofia etwas hätte bewegen können, wenn nicht Gorbatschow 1985 in Moskau mit seinem „Neuen Denken“ begonnen hätte? Bei allem Respekt für den Mut und die Kreativität der Novemberrevolution von 1989 in Leipzig, Berlin und Dresden: Bewegungsraum hat ihr erst die sowjetische Reformpolitik gegeben, und mit deren Erfolg bleibt dieser Bewegungsraum verknüpft. Warum diese wesentliche Einsicht, die in anderer Form die gesamte sozialdemokratische Ost- und Deutschlandpolitik geprägt hat, in einem Papier fehlt, das die Handschrift Egon Bahrs trägt, versteht man nicht. Der Name Gorbatschow taucht in der „Berliner Erklärung“ bisher überhaupt nicht auf.

Engdeutsch nenne ich eine Erklärung unter dem Titel „Die Deutschen in Europa“ auch, wenn in ihr zwar ausführlich deutsch-deutsche Hilfsmaßnahmen beschrieben und unsere westlichen Nachbarn versichert werden, die Angst vor deutscher Abweichung vom Westen sei unbegründet, man dann aber die osteuropäischen Nachbarn lediglich auf die Öffnung der EG und Hilfe aus Amerika verweist. Wo bleibt das Gespür dafür, daß sich fast alle Hoffnungen in Polen, Ungarn, in der Tschechoslowakei und Bulgarien und viele auch in der Sowjetunion auf die ökonomische Hilfe des Westens und da besonders der Bundesrepublik richten?

Und daß jetzt dort die Angst ausgebrochen ist, nun werde sich das ganze Interesse deutscher Unternehmer auf die DDR konzentrieren und das mühsam geweckte Engagement für die sich erneuernden Volkswirtschaften in Osteuropa zusammenbrechen? Gerade weil diese Angst nicht ganz unberechtigt ist, muß die SPD deutlich machen: Wir verkürzen unseren Blick jetzt nicht germanozentrisch auf das neue deutsch-deutsche Tete-a-tete, nach dem Motto „Erst die Familie, dann lange nichts und dann erst die Nachbarn“, sondern versuchen, den Tisch gleich für alle zu decken. Eine isolierte Prosperität der DDR wäre ökonomisch denkbar, nicht aber politisch. Jede enttäuschte Hoffnung in Osteuropa schwächt den Reformprozeß, von dem alle deutschen Zukunftsträume zehren. Die Fehlstellen in der „Berliner Erklärung“ lassen sich noch ausfüllen. Schwerer wird es sein, bei einem anderen Signal der SPD aus diesen Tagen Irritationen zu vermeiden. Angesichts der schon anlaufenden CDU-Kampagne, die SPD habe sich der SED immer angebiedert, erscheint es verständlich und im ersten Moment auch politisch klug, jetzt die sozialdemokratische Zuwendung auf die SDP zu lenken, so vage ihre politischen Konturen auch bisher noch sein mögen. Hat aber jemand einmal überlegt, was ein Abbruch jeden Dialogs mit der SED für mulmige Gefühle hervorrufen kann? Was sollen wir denn zum Beispiel antworten, wenn uns jemand fragt, warum wir mit Honecker und Krenz noch die Klingen der Streitkultur gekreuzt haben, den Gysis und Berghofers aber jetzt die kalte Schulter zeigen. Vielleicht nur, weil sie nicht mehr die Macht haben? Weil die SDP (ja auch noch ohne Macht) jetzt als Alternative bereitsteht?

Wäre ich Gorbatschow, würde ich die SPD um Auskunft bitten: Was macht Ihr eigentlich, wenn in Moskau eine sozialdemokratische Partei gegründet wird? Werdet Ihr dann Eure Delegationen zu den Neo-Martows und Neo-Dans schicken und mir fröhlich ein „Tschüß Gorbi!“ zuwinken? Werde ich zusammen mit der Reform-KPdSU dann auch fallengelassen wie eine heiße Kartoffel?

Deutschland- und Ostpolitik findet derzeit unter Streß statt. Das Thema, da kann man sicher sein, wird mit dem Schaufelbagger auf die Kampfstätten des Bundestagswahlkampfes verfrachtet. Das Schlechteste, was der SPD jetzt passieren könnte, wäre der Verlust ihrer Linie, das Versiegen der Orientierung, die sie hier immer hatte und anderen gab. Nach dem Berliner Parteitag will sich keiner mehr von uns die Haare raufen.

Gernot Erler (MdB)