Vogels „panikartige Überreaktion“

■ Henning Voscherau (SPD), Erster Bürgermeister in Hamburg, wehrt sich gegen den von seinem Parteichef geforderten Abbruch der Beziehungen zur SED / Gegen ein Berufsverbot unter Parteien / Kritik auch an Lafontaine

taz: Wenn es nach Ihrem Parteivorsitzenden Vogel geht, dürfen Sie Modrow und Berghofer an diesem Wochenende in Dresden nicht die Hand geben. Was nun?

Henning Voscherau: Der Bürgermeister Hamburgs darf Ministerpräsident Modrow und Oberbürgermeister Berghofer namens des Landes Hamburg sehr wohl die Hand geben...

...Auch als Sozialdemokrat Henning Voscherau?

Der Sozialdemokrat Voscherau hat gemäß dem Beschluß in Bonn die Brücken abzubrechen zu SED-Politikern - allein das ist schon überzogen. Aber da man sich nicht aufspalten kann, werden die Träger der Staatsämter weiterhin miteinander sprechen. Ich halte daran jedenfalls nachdrücklich fest.

Und was machen die SPD-Funktionäre ohne Regierungsamt?

Die haben jetzt glücklicherweise eine Bruderpartei namens SDP. Aber: Dies zwingt nicht dazu, eine Art Kontaktsperre gegenüber real existierenden, wenn auch anderen und gegnerischen Parteien auszurufen. Es ist nicht richtig, Gespräche mit SED-Politikern abzubrechen.

Welcher Teufel hat denn den Vogel geritten, daß er den Abbruch der Beziehungen will?

Die böswillig-polemische Kritik der CDU/CSU - „Wandel durch Anbiederung“ - zeigt Wirkung...

Und wird jetzt bestätigt.

Die SPD darf deswegen nicht defensiv antworten, darf nicht in panikartige Überreaktionen verfallen. Sie darf sich nicht durch eine Art Berufsverbot zwischen Parteipolitikern zum Kronzeugen gegen ihre eigene bisherige Haltung machen.

Zumindest ein SPD-Politiker ist alles andere als defensiv: Oskar Lafontaine. Dessen Überlegung zum Zuzugsstopp ist in Hamburg nicht gerade beklatscht worden.

Weil das auch defensiv ist - eine falsche Schlußfolgerung aus einer richtigen Problemanalyse. Es ist die Vorwegnahme der von Lafontaine vorausgesagten Egozentrik und unsolidarischen Eigensucht, die er bei den Bundesbürgern vermutet. Wir können doch nicht eine westliche Paragraphenmauer anstelle der östlichen Betonmauer setzen. Wer das androht, bewirkt Übersiedler, jetzt.

Ihre Alternative?

Durch tatkräftige, finanzwirksame Unterstützung und Know -how-Transfer, durch Umweltschutz und Modernisierung der Arbeits- und Lebensbedinungen in der DDR jetzt Zuversicht auszulösen.

Wer soll das denn bezahlen?

Wir müssen jetzt die Solidarität der Bundesbürger einfordern - gerade wenn und weil es unpopulär ist. Fangen wir bei den Spitzenverdienern an, nehmen wir die Steuersenkung zurück - dazu einen befristeten Spitzensteuerzuschlag bei Einkommens- und Körperschaftssteuer. Und - das trifft alle - heben wir den Mehrwertsteuersatz an; das ist wegen der westeuropäischen Harmonisierung ohnehin unausweichlich. Dies ist ein guter Anlaß und eine ehrliche Begründung. Und wenn man dann noch das Volumen der Zonenrandförderung, die wegfallen müßte, hinübertransferiert, dann reicht das für eine lange Strecke. Auch die private Hilfsbereitschaft der Bürger und Unternehmen kann mit einem Programm mobilisiert werden etwa durch steuerliche Anreize.

Die Bundes-SPD denkt derzeit nicht weiter als bis zur Konföderation. Was kommt Ihrer Ansicht danach, etwa in Hinsicht auf die Militärblöcke?

Deren Aufrechterhaltung ist sogar bei einer Konföderation denkbar. Man hat sich aber darauf einzurichten, daß die Entwicklung der jetzigen Warschauer-Pakt-Staaten die Sowjetunion dazu bringen muß, einen Europaplan vorzulegen, der definiert, wie sich die UdSSR die Entwicklung des europäischen Hauses vorstellt. Dann wird es eine Möglichkeit geben, die Militärblöcke umzustrukturieren, umzubauen und am Ende aufzulösen, abzuschaffen.

Vorher starrt alles auf die - noch - beiden deutschen Staaten. Wie bewerten Sie die Skepsis der westeuropäischen Nachbarn gegenüber einem größeren Deutschland?

Die westlichen Siegermächte sollen nicht defensiv und furchtsam sein. Und vor allem: Sie dürfen nicht den Fehler machen, durch die Ablehnung dessen, was die Selbstbestimmung der Deutschen auch ermöglicht, nämlich die Einheit, zu einer emotionalen Isolierung des deutschen Volkes beizutragen. Das nämlich würde eine nationale Welle auslösen. Die würde allen schaden, vor der würde ich mich fürchten.

Interview: Axel Kintzinger