„Zur Frage der Nation...“

■ Deutschlandpolitische Debatte der AL endet mit einem Ja zur Zweistaatlichkeit - vorausgesetzt die DDR spielt mit

Zwei andere Termine hatte Martin Schramm von der Ostberliner Umweltbibliothek abgesagt, um der Mitgliederversammlung der AL zur Deutschlandpolitik beizuwohnen. Nach dem Ende der rund fünfstündigen Debatte im Bürgersaal des Charlottenburger Rathauses tat ihm dieser Entschluß sichtlich leid. „Mit Schrecken“ habe er die Politikunfähigkeit der AL zur Kenntnis genommen; „mit Befriedigung“ dagegen, daß die vergleichsweise etablierten West-Alternativen „es auch nicht besser können als wir. Deshalb sehe ich für uns ganz gute Chancen.“ In der Tat mußte die deutschlandpolitische Generaldebatte auf Außenstehende etwas befremdend wirken, zumal sie angesichts des revolutionären Vorlaufs in der DDR reichlich spät einberufen wurde.

Mehrheitlich verabschiedet wurde schließlich ein Resolutionsentwurf, der unter anderem vom deutschlandpolitischen Sprecher der AL, Albert Statz, von den GA-Mitgliedern Harald Wolf, Angelika Hirschmüller und Ilona Hepp, Hilde Schramm und Dirk Schneider unterzeichnet worden ist. Darin wird die deutsche Zweistaatlichkeit „auf absehbare Zeit“ und der Vorschlag einer Vertragsgemeinschaft unterstützt. Gemeint sei ein „vielfältiges Kooperation- und Beziehungsgeflecht zwischen zwei souveränen Staaten zur Lösung gemeinsamer ökologischer, wirtschaftlicher und friedenspolitischer Probleme“. Die AutorInnen der Resolution fordern zudem sofortige Wirtschaftshilfe ohne Vorbedingungen und die Übernahme der Auslandsschulden der DDR in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar durch die Bundesrepublik. Nur so könne der DDR ein selbstbestimmter Weg überhaupt ermöglicht werden, erklärte Wolf in der Debatte.

Relativiert wurde der Entwurf durch einen ebenfalls beschlossenen Zusatzantrag aus der Feder des Ex-AL -Abgeordneten Peter Sellin. Demnach macht die AL das Ergebnis des Volksentscheides in der DDR „zur Grundlage ihrer weiteren Politik“ und betrachtet die weitere Entwicklung deshalb als offen.

In der zeitweise emotional sehr aufgeladenen Atmosphäre war die Diskussion oft mehr von parteiinternen Flügelstreits bestimmt als von den Ereignissen seit dem 9.November. Streckenweise fühlte man sich gar an die gleichzeitig ein paar Kilometer weiter tagende SED erinnert, als einige RednerInnen „personelle Erneuerungen“ in der AL und damit faktisch den Abgang der bisherigen deutschlandpolitischen Sprecher forderten. Nur wenige RednerInnen erlaubten sich den Hinweis, daß der Ausgang der AL-Debatte „Einheit oder Zweistaatlichkeit“ vermutlich wenig Einfluß auf die Entwicklung in der DDR haben wird. „Wer agiert hier eigentlich“, fragte Jochen Esser, Redakteur der AL -Zeitschrift 'Stachelige Argumente‘. „Doch nicht die AL, sondern ganz andere Kräfte.“ Wenn in der DDR die „Wiedervereiniger“ gewählt würden, könne die AL das auch nicht aufhalten. Dazu müsse sich die AL verhalten. Entsprechende pragmatische Vorschläge in diese Richtung blieben allerdings die Ausnahme. Christian Ströbele sprach sich immerhin dafür aus, das Prinzip der Nichteinmischung aufzugeben und Oppositionsgruppen wie das Neue Forum oder die „Vereinigte Linke“ zu unterstützen.

Schramm, der die Debatte bis dahin nur als Zuhörer verfolgt hatte, setzte schließlich einen kurzen, aber markanten Schlußpunkt. Um zu demonstrieren, wie schnell und auf welchen Wegen sich die Wiedervereinigung - mit oder ohne AL

-vollzieht, zeigte er dem verblüfften Auditorium eine ganzseitige Anzeige des Versandhauses „Quelle“ - erschienen am Vortag im FDJ-Organ 'Junge Welt‘.

Mit der abschließenden Abstimmung der vorliegenden Anträge gelangte man immerhin zu einem „Meinungsbild“. Beschlußfähig war die Vollversammlung ohnehin nicht - die Einladungen waren zu kurzfristig verschickt worden.

anb

(Zur AL-Debatte über den Zustand der rot-grünen Koalition siehe Artikel auf der Seite 5.)