Verlorene Unschuld

■ Ein Gespräch mit dem tschechischen Regisseur Milos Forman, dessen Film „Valmont“ gerade in den Kinos läuft

Gerhard Midding

Gerhard Midding: Mr. Forman, worin lagen für Sie die Schwierigkeiten der Adaption dieses Briefromans? Immerhin darf man nichts wortwörtlich nehmen, die Briefschreiber übertreiben, verfälschen, täuschen, beschönigen.

Forman: Das machte meine Arbeit mit Jean Claude Carriere (dem Drehbuchautoren) so einfach und vergnüglich! Denn genau das war unser Ansatz, für den wir uns gleich zu Beginn unserer Arbeit entschieden hatten: versuchen wir doch, herauszufinden was geschah, bevor die Briefe geschrieben wurden! Die wahre, unverfälschte, unredigierte Geschichte. Nach einigen Tagen legten wir den Roman beiseite, schließlich kannten wir ihn gut genug. Nach Abschluß der Dreharbeiten - wir hatten etwa sechs Monate daran gesessen brachte mich Jean Claude darauf, daß es keine einzige Szene im Film gibt, die auch im Roman vorkommt. Das fand ich sehr vergnüglich.

Daß die Drehbucharbeit in dieser Hinsicht vergnüglich war, kann ich mir vorstellen. Aber war sie wirklich einfach?

Ja, denn wir hatten eine ungeheure Freiheit. Sehen Sie, Romane werden doch auch nur von Menschen geschrieben und nicht von Göttern! Die größten Literaten haben doch nicht allein ihr Genie zu Papier gebracht, sondern auch ihre Schwächen und Fehler. Große Schriftsteller sind allein vermittels der Sprache in der Lage, ihre Leser alles glauben zu machen, was sie wollen. Sie können die emotionalen und geistigen Prozesse in einer Figur so beschreiben, daß man als Leser deren Taten ganz selbstverständlich akzeptiert. Im Film ist das nicht so einfach. Da stellt man oft fest, was für Dummheiten den Schriftstellern durchgehen können. Wenn man die Geschehnisse der erhellenden Wirkung einer schönen Sprache entkleidet, und zwar bis aufs Skelett entkleidet, bemerkt man oft genug, daß das Rückgrat ganz schön verbogen ist. Wenn man ein Buch werkgetreu illustrieren will, muß man da eine Menge Dinge wieder zurechtbiegen! In den „Liaison Dangereuses“ sind einige Dinge so ausführlich beschrieben, daß man sie beim Lesen ganz selbstverständlich akzeptiert, aber als ich genauer darüber nachdachte, erschienen sie mir dann reichlich unglaubwürdig. Ich verstehe zum Beispiel recht gut, daß sich Madame de Merteuil an Gercourt rächen will: er hat sie gedemütigt, und das trifft ins Herz einer Frau wie ein Dolchstoß. Die einzig wirklich effektive Möglichkeit, sich zu rächen, war zu jener Zeit diese: Sie mußte sicherstellen, daß Gercourt seine Hochzeitsnacht nicht mit einer Jungfrau verbringt und daß überdies ganz Paris davon erfährt. So weit verstehe ich ihre Motive. Aber im Roman verlangt sie von Valmont nicht nur, Cecile zu deflorieren, sondern auch noch, sie zu korrumpieren, und sie zu einer Prostituierten zu machen. Warum? Nun, wie Laclos es beschreibt, ist das fast schon wieder amüsant, aber ich verstehe es nicht. Die Merteuil wird für mich dadurch einfach nur zu einem gemeinen, armseligen Monstrum.

Das Gleiche gilt für die Verführung der Madame de Tourvel. Sie schließt eine Wette mit Valmont darüber ab. Valmont gelingt es, die Tourvel zu verführen, und er verlangt seinen Gewinn. Im Roman verlangt sie aber plötzlich, daß Valmont ihr eine schriftliche Bestätigung gibt. Warum?

Immerhin ist es ein Briefroman.

Exakt! Das ist genau das, wovon ich spreche. Laclos schreibt einen Roman, und wir machen einen Film. Im Film kann man nicht mit solch eleganten Worten ausdrücken, was in den Köpfen der Figuren vorgeht. Und dann werden die Figuren zu Monstren! Dabei steckt soviel Noblesse in Laclos‘ Schreibstil und im Stil, in dem die Figuren einander schreiben. Da wird eine ungeheure Palette von Gefühlen beschrieben. Wenn man das auf der Leinwand lediglich illustrieren würde, bliebe nur ein Skelett übrig. Also muß man große Veränderungen vornehmen, damit wieder Fleisch auf das Skelett kommt.

Akzeptieren Sie eine Interpretation, die Valmont in den thematischen Kontext Ihrer früheren Filme (etwa „Die Liebe einer Blondine“ oder „Einer flog über das Kuckucksnest“) eingliedert, in denen es immer um Figuren geht, deren Verhalten ihre Zeitgenossen schockiert und empört?

Ja, aber nur im Bezug auf „Die Liebe einer Blondine“. In den anderen Filmen fordert ein Individuum eine Institution heraus. Das ist nicht Valmonts Geschichte. Er stellt sich zwar gegen gewisse moralische Konventionen seiner Zeit, aber nicht gegen eine Institution.

Allgemeiner: in ihren Filmen geht es immer um die Gegensatzpaare Unschuld und Erfahrung, Idealismus und Zynismus.

Der Prozeß, durch den wir im Leben die Unschuld zugunsten gewisser Erfahrungen verlieren, der Prozeß, durch den wir Ideale gegen Lebenserfahrungen eintauschen - dieses Drama berührt mich sehr.

Können Sie mir - angesichts der aktuellen Situation - Ihre Erinnerungen an die Zeit schildern, bevor Sie die CSSR verließen? War das eine Zeit der Euphorie, eine Zeit der Liberalisierung und der Renaissance des tschechischen Films?

Das war eine sehr, sehr aufgeregte Zeit für mich. Ich schloß mein Studium an der Filmhochschule 1955 ab und fühlte mich als vollendeter Filmemacher - viel stärker, als ich das heute empfinde. Die tschechische Filmindustrie, die vor dem Krieg noch florierte, steckte in einer tiefen Krise und so warteten wir zu Dutzenden vor verschlossenen Türen darauf, endlich Filme machen zu dürfen. Plötzlich, 1962, nach der kurzen Zeit der Liberalisierung unter Chruschtschow, wurden auch bei uns die Türen ein wenig geöffnet.

Wir Filmstudenten damals waren ganz anders als die Studenten, die ich heute an der Columbia unterrichte. Die beziehen ihre Inspiration hauptsächlich aus Filmen, die sie bewundern, ja, sie kopieren diese sogar mehr oder weniger. Unsere Reaktion war damals genau gegenteilig: Wir lehnten die idiotischen Filme ab, die während der Stalinära in der CSSR produziert wurden. Das waren nur dumme Propagandalügen, in denen keine wirklichen Menschen vorkamen.

Die tschechischen Filmemacher dieser Zeit werden sehr oft als die Vorläufer der Reformbewegung des Prager Frühlings bezeichnet. Haben Sie sich damals auch so gesehen?

Nein, das mag vielleicht im Rückblick so erscheinen, aber wir wollten uns einfach nur einen Freiraum erkämpfen in der bestehenden Gesellschaftsstruktur und in der monopolisierten Filmindustrie der CSSR. Ich habe mich nie praktisch an der Politik beteiligt, auch später in Amerika nicht. Ich wollte nie Mitglied einer Partei sein, denn die verlangen Loyalität. Ich will nur mir selbst gegenüber loyal sein müssen, will unabhängig sein. Und ich will die Freiheit besitzen, jedermann anders einzuschätzen, als es ihm lieb ist...

Ihre tschechischen Filme setzen sich satirisch mit der Gesellschaft auseinander, zum Beispiel mit der Bürokratie. Wie wurde „Der Feuerwehrball“ in ihrem Heimatland aufgenommen, der international ja sehr viel Anerkennung bekam?

„Der Feuerwehrball“ wurde erst in diesem Jahr dort aufgeführt, er war 20 Jahre lang verboten. Er kam damals eine Woche vor der russischen Invasion heraus und wurde dann sofort abgesetzt. Uns half die internationale Anerkennung natürlich sehr. Wenn niemand in Europa oder in den USA unsere Filme gesehen hätte, wäre es viel leichter gewesen, uns zum Schweigen zu bringen. Und ich darf nicht vergessen, daß es unter uns Filmemachern eine große Solidarität gab, wir empfanden nicht die geringste Konkurrenz untereinander. Denn wir wußten, daß wir zusammenhalten mußten, andernfalls würde man uns fertigmachen.

Wie reagierten die Amerikaner auf die sehr kritischen Filme, die Sie dann in den USA über das Land gemacht haben? Haben sie auch - wie vielen deutschen Emigranten - Ihnen den Vorwurf gemacht, sie bissen in die Hand, die sie füttert?

Ich habe sehr interessante Erfahrungen gemacht. Erst einmal: das amerikanische Publikum greift einen nicht an. Das Publikum will einfach nur zwei interessanten Stunden im Kino verbringen, dem macht es eigentlich auch nichts aus, wenn man sich über sie lustig macht. Ich finde das eine sehr gesunde Situation. Aber die Kritiker! „Taking off“ wurde sehr gut besprochen, nur in zwei Kritiken wurde ganz vehement der Vorwurf geäußert, den Sie erwähnt haben. Und stellen Sie sich vor: beide Kritiken wurden von Einwanderern geschrieben, von einem Kubaner und einem Jugoslawen! Heutzutage ist es genau umgekehrt. Wenn ich jetzt „europäische“ Stoffe wie „Amadeus“ oder „Valmont“ verfilme, greifen mich die amerikanischen Kritiker an! (lacht)

Um „Amadeus“ zu drehen, konnten Sie in die CSSR zurückkehren. Wie war das möglich?

Nachdem ich 1977 amerikanischer Staatsbürger geworden war, hat man mir zweimal das Visum für eine Privatreise verweigert. Als wir dann planten, „Amadeus“ zu drehen, kamen nur drei Städte für die Außenaufnahmen in Frage: Wien, Budapest und Prag. Dies sind die einzigen Städte, in denen man noch die Architektur des 18.Jahrhunderts findet. Wien war zu teuer, Budapest war in den letzten 200 Jahren durch zuviele Kriege zerstört worden, da fanden wir keine einzige Straße, in der nicht wenigstens ein, zwei moderne Häuser standen. Also versuchte ich es in Prag. Diesmal war es keine Privat-, sondern eine Geschäftsreise, und als sie das Geschäft, die Dollars, rochen, gaben sie mir das Visum.

Wie ist Ihre persönliche Einschätzung der aktuellen Situation in Prag?

Ich denke, daß dort im Augenblick eine sehr, sehr positive Entwicklung stattfindet. Ich bin sehr beeindruckt von der Intelligenz und der Eleganz, mit der diese politisch völlig unerfahrenen Menschen - Vaclav Havel und das Bürgerforum sind ja alles keine Politiker - diese Machtverschiebung zustande bringen. Ich bin sehr beeindruckt.

Haben Sie viel Kontakt zu Ihrer alten Heimatstadt?

Natürlich. Ich war gerade vor drei Monaten dort und traf Vaclav Havel. Damals machte sich noch niemand eine Vorstellung von dem Tempo dieser Entwicklung. Einer meiner Söhne lebt dort, mein Kostümbildner Theodor Pisteck lebt dort und auch Miroslav Ondricek, mein Kameramann. Ich telefoniere also viel mit den Menschen dort.