Abtreibungs- läuten

Die katholischen Bischöfe haben dazu aufgerufen, am 28.12.89 die Glocken läuten zu lassen für den Wert des menschlichen Lebens und gegen lebensfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft. Es soll daran erinnert werden, daß jährlich 250.000 Abtreibungen in der BRD durchgeführt werden. Es soll das Bewußtsein dafür geschärft werden, daß es sich dabei um Unrecht handelt und eine Verfügungsgewalt der Frauen über den Embryo zu bestreiten sei (Auskunft der Pressestelle des erzbischöflichen Sekretariats München).

Als Datum wurde der „Tag der unschuldigen Kinder“ gewählt. Angesichts der aktuellen Situation und Diskussion um die Strafbarkeit der Abtreibung erfüllt mich die Terminwahl und die Art, wie die Thematik aufgegriffen wird, mit großer Sorge. (...)

Spätestens seit den Memminger Prozessen haben wir in der BRD und besonders in Bayern eine Diskussion um die Strafbarkeit der Abtreibung, die von Intoleranz, Aggressivität und Gehäßigkeit gekennzeichnet ist. Bei den GegnerInnen der Bestrafung gibt es viele, die den BefürworterInnen jede ernste Sorge und jegliches aufrichtiges Engagement für eine lebensfreundliche und kinderfreundliche Welt absprechen. Bei den BefürworterInnen gibt es viele, die den StrafgegnerInnen Mord und Freude am Töten vorwerfen.

Die Gründe, weswegen eine Frau/eine Familie sich zu einer Abtreibung entschließt, sind vielschichtig und stellen eine tiefgreifende momentane Ausnahmesituation dar, die weder von Strafgesetzen noch von vorherrschenden moralischen Vorstellungen einer Gesellschaft wirklich erreicht werden. (...) Daß dies für viele Menschen schwer zu ertragen ist, ändert nichts daran.

Die Frauen und Familien, in deren Leben eine Abtreibung vorkommt, sind keine besonderen andersartigen Ausnahmemenschen mit einer anderen oder besonders niedrigen Moral. Es ist auch keineswegs die Minderheit in der Bevölkerung. Es sind dieselben Menschen, die Kinder haben, in die Kirche gehen und sich nach einer kinderfreundlichen Welt sehnen.

Durch die Strafverfolgung und durch die in den Memminger Prozessen öffentlich praktizierte Demütigung und Isolierung betroffener Frauen und Familien hat sich die Zahl der Abtreibungen keineswegs verringert. Aber die Bedingungen sind wieder schlimmer geworden: Reisen in andere Bundesländer, ins Ausland, tagelanges vergebliches Spießrutenlaufen bei noch mehr Institutionen und bei Ärzten, die sich weigern, Frauen überhaupt noch in ihrer Not zu beraten, sind wieder an der Tagesordnung.

Noch schlimmer aber ist, daß die betroffenen Frauen (und Männer) unter ungeheurer Angst, Schuldgefühlen und Einsamkeit diese Situation durchstehen müssen. Sie müssen sich, ihre Ängste und Probleme verstecken statt sie lösen zu können. Wo Verständnis und Trauer am dringendsten wären, verhindern Schuldgefühle und das Gefühl, ausgestoßen zu sein, eine kreative Bewältigung. Damit werden die nächsten Abtreibungen mit vorbereitet.

Im Zusammenhang mit der Strafbarkeit der Abtreibung gibt es eine Fülle weiterer offener Fragen:

-Wie kommt es, daß in Holland am wenigsten in ganz Europa abgetrieben wird, während dort die liberalste Abtreibungsgesetzgebung besteht?

-Mit welchem Recht wird die körperliche und selische Einheit schwangere Frau in zwei selbständige sich (feindlich) gegenüberstehende Wesen getrennt? Von wem stammt diese Vorstellung? Was für Interessen drückt das aus? Wie empfinden dies schwangere Frauen?

-Wie kommt es, daß Frauen, die selbst abgetrieben haben, für die Bestrafung der Abtreibung sind? Warum schweigen Männer, die bei Abtreibungen beteiligt waren, wenn Frauen gegen die Bestrafung auftreten? Warum verfolgen Richter, die selber bei Abtreibungen beteiligt waren, Frauen nach dem § 218? Wie kommt es, daß Männer, die im Zölibat leben, über die Probleme ungewollt schwangerer Frauen urteilen wollen? Welche Besonderheiten haben Ärzte, daß sie über Indikationen befinden können?

-Welche psychischen, sozialen und materiellen Gründe führen überhaupt zu einer ungewollten Schwangerschaft? Wie könnten diese Gründe verstanden und abgebaut werden?

-Wie kommt es schließlich, daß an der Bestrafung der Abtreibung festgehalten wird, obwohl weltweit und historisch feststeht, daß damit kein Einfluß auf die Zahl der Abtreibungen genommen wird?

Wenn am 28. Dezember die Glocken läuten, so werden sie keine Abtreibung verhindern. Sie werden aber - das ist meine Befürchtung - angesichts der konkreten Situation in der BRD und angesichts der vielen ungelösten Probleme alle diejenigen ermutigen, die ihre eigenen Ängste und die gesellschaftlichen Probleme nicht ertragen können im Zusammenhang mit der Abtreibung, die froh sind, sich moralisch entrüsten, andere für schuldig und minderwertig und sich selbst für nicht verantwortlich erklären zu können. Es wird denen Auftrieb geben, die auf Verachtung und Verfolgung von Frauen angewiesen sind.

Die Glocken werden unter diesen Umständen - ob das beabsichtigt ist oder nicht - die Würde und Selbstachtung von Millionen Frauen (und Männern?) bedrohen, und es wird nach Schuld und Sühne klingen.

Solche Befürchtungen werden massiv bestätigt durch die Gleichsetzung des Wütens eines patriarchalischen Königs Herodes mit der Entscheidung einer schwangeren Frau, ihre ureigenste Schwangerschaft zu beenden. Eine solche Terminwahl muß an dumpfe, undifferenzierte Angst- und Rachegefühle appellieren.

(...) Schließlich: Sollte nicht gerade die katholische Kirche bei Handlungen, die mit Schuldzuweisung, mit dem Herausstellen von Sündenböcken, mit dem Fingerzeigen auf Andersdenkende, Andershandelnde, auf „Ketzer und Sünder“ zu tun haben, besonders zurückhaltend und sensibel sein, nachdem sie eine lange Geschichte der Verfolgung und Verbrennung von heilkundigen, geburts- und verhütungskundigen weisen Frauen, sogenannte Hexen, zu verantworten und zu betrauern hat?

Dr. Wolf Bergmann, München