Selbstbestimmung braucht Zeit

Antje Vollmer, Fraktionssprecherin und Ralf Fücks, Vorstandssprecher der Grünen, schreiben an die Delegierten des SPD-Parteitags und kritisieren die deutschlandpolitische Erklärung der Sozialdemokraten  ■ D O K U M E N T A T I O N

Leicht ist es nicht, in diesen Wochen mit dem Tempo der historischen Umwälzungen in der DDR und den anderen mittelosteuropäischen Staaten mitzuhalten. Niemand kennt das Ende dieser Prozesse. Da liegt es gefährlich nahe, auf Wahlkampf statt auf politische Gestaltung zu setzen.

Helmut Kohl treibt Deutschland- und Europapolitik vor allem als sein eigener oberster Wahlkämpfer. Sein im Alleingang vorgetragener 10-Punkte-Plan ist ein Spiel mit dem Feuer, das schlicht darauf setzt, daß die anderen - die Alliierten, die EG und vor allem Gorbatschow - schon löschen werden.

Im Kern setzt Kohl die staatliche Einheit der Deutschen an die erste Stelle des europäischen Prozesses. Die DDR soll ihm zufallen möglichst ohne riskante Manöver der Bundesregierung - als Folge eines politischen Vakuums, der sozialen Krise und der mit nationalen Emotionen aufgeladenen Wut und Resignation der Bevölkerung. Das deutsche Zentrum des europäischen Hauses soll möglichst schnell stehen; alles andere hat sich daran auszurichten.

Wir haben den Eindruck, daß die SPD im Begriff ist, diesem Kurs nichts mehr entgegenzusetzen. Vor allem verlangsamt sie nicht das Tempo des durch Kohls 10-Punkte-Plan künstlich angeheizten Prozesses.

Im einzelnen haben wir zur Berliner Erklärung der SPD folgende Fragen und Einwände:

1. Zur Konföderation:

Die SPD möchte möglichst bald eine Konföderation der beiden deutschen Staaten. Sie knüpft den Konföderationsgedanken aber nicht an ein Modell paritätischer Entscheidungen mit Vetorechten für die DDR.

Mehr noch: Die Präsidiumserklärung degradiert eine Konföderation zur bloßen Übergangsphase auf dem vorbestimmten Weg zu einem bundesstaatlichen Einheitsstaat. Konföderation kann so keine Form sein, die Selbstbestimmung und Gleichberechtigung, Nähe und zugleich Distanz zwischen den beiden deutschen Staaten ermöglicht.

Konföderation in dieser Lesart wäre bloßes Vehikel auf dem Weg zur Wiedervereinigung; ihr Wert würde daran gemessen, wie schnell dieses Ziel erreicht wird.

2. Zur Anerkennung der Eigenstaatlichkeit der DDR:

Warum vebindet die SPD ihren Konföderationsvorschlag nicht mit der Anerkennung der Staatlichkeit einer demokratisch erneuerten DDR - also spätestens zum 6.Mai 1990?

Diese Anerkennung müßte als erstes erfolgen, wenn die Bundesrepublik nicht mit einem völkerrechtlichen „Nichts“ konföderieren will. Ein Staatenbund setzt die respektierte Eigenständigkeit der einzelnen Teilnehmer voraus, um definieren zu können, was in Zukunft gemeinsam und was weiter in Eigenverantwortung geregelt werden soll.

Dazu gehört unseres Erachtens auch das Angebot einer doppelten Staatsbürgerschaft bei der Respektierung der Staatsbürgerschaft der DDR.

3. Zur Fremdbestimmung des zentralen Wahlkampfthemas in der DDR:

Niemand weiß genau, welche Funktion und Bedeutung in zehn Jahren die Grenzen in Europa haben werden. Wieso setzt die SPD in dieser offenen Situation so unbedingt auf staatliche Einheit? Gleichzeitig sollen die Menschen in der DDR schon jetzt entscheiden, ob sie sich auf die Rutschbahn in die Wiedervereinigung setzen.

Durch das Tempo, das CDU und SPD in dieser Frage einschlagen, wird den Menschen in der DDR schon jetzt die Frage der Wiedervereinigung als zentrales Wahlkampfthema aufgezwungen - noch bevor die minimalen Voraussetzungen für eine öffentliche und demokratische Diskussion und Entscheidung in der DDR bestehen. Dieses Tempo richtet sich allein nach uns, weil unser Wahlkampf anscheinend danach entschieden werden soll, wer am schnellsten die deutsche Fahne am höchsten hißt.

Folgerichtig ist zu hören, daß die SPD-Führung ihren Wahlkampf gleich in der DDR führen will. Wo bleibt da die Selbstbestimmung? Setzt ein demokratisches Zusammengehen nicht einige Jahre der Selbstvergewisserung in der DDR voraus? Hat die „Reala“ Thatcher in diesem Punkt nicht eher recht als Augstein?

4. Zu den außenpolitischen Gefahren:

Die skeptischen bis kritischen Reaktionen der westlichen Nachbarn sind bekannt. Die westdeutsche Politik droht bereits überwunden geglaubte Konflikte wieder aufzureißen.

Im Osten wird Gorbatschow, der vor existentiellen Krisen steht und auf außenpolitische Erfolge angewiesen ist, vom Vorpreschen der Bundesregierung und der bundesdeutschen Wahlkampfstrategen unter Druck gesetzt. Wer ist in Europa gegenwärtig politische Supermacht? „Partner in leadership“ ist die BRD schon länger. Jetzt wird sie noch mächtiger. Soll Gorbatschow wie die Westalliierten gezwungen werden, zur Beschleunigung der „deutschen Einheit“ ja zu sagen aus Angst, daß die Deutschen sich über jedes Nein ohnehin hinwegsetzen werden?

Wenn der Zerfall des Warschauer Vertrages mit dem faktischen Herausbrechen der DDR zu seinem Offenbarungseid weitergetrieben werden soll, dann kann niemand für die weitere Entwicklung in der Sowjetunion, in Polen etc. garantieren. Dann aber ständen auch die Erfolge sozialdemokratischer Ostpolitik in Frage.

5. Zum Thema Abrüstung:

Die Berliner Erklärung der SPD schlägt Abrüstung mit dem Ziel der strukturellen Angriffsfähigkeit vor. Das nimmt sich aus unserer Sicht bereits antiquiert aus. Die Interessenlagen und gesellschaftlichen Entwicklungen haben sich in Osteuropa derart auseinanderentwickelt, daß der Warschauer Vertrag nicht einmal zu einer gemeinsamen Verteidigungsanstrengung in der Lage wäre, von seiner Angriffsfähigkeit ganz zu schweigen.

Damit entfällt jede Legitimation für die Nato als Militärbündnis wie für die Rüstungspolitik der Bundesrepublik, Entmilitarisierung der beiden deutschen Staaten und der europäischen Politik ist zu einem realistischen Ziel geworden.

So schnell die SPD bei der Wiedervereinigung ist, so langsam ist sie bei der Abrüstung.

6. Zum Zeitplan:

Die Aussage der Berliner Erklärung, die SPD habe stets die nationalen und internationalen Interessen in Einklang bringen können, ist mit Blick auf die wechselvolle Geschichte der SPD ein bißchen gewagt - mit Blick auf die Gegenwart aber auch nicht überzeugend.

Weshalb betten Sie den Konföderationsgedanken nicht in ein Modell, das der DDR für einen berechenbaren Zeitraum die Eigenständigkeit und die Korrigierbarkeit ihrer politischen Entscheidungen zubilligt? Weshalb binden Sie Ihre politischen Vorschläge an keinerlei realistische Zeitpläne?

Könnte man sich nicht darauf verständigen, zuallererst die demokratische Selbstbestimmung und Reorganisation von Parlament, Verfassung und demokratischer Öffentlichkeit der DDR zu unterstützen, dann die angebotene Vertragsgemeinschaft zu erproben, um dann eine Konföderation bei Wahrung der Parität und der Chancengleichheit zu erwägen - was zumindest zwei Legislaturperioden in Anspruch nehmen würde?

Selbstbestimmung braucht Zeit. Erst müssen beide deutschen Staaten und ihre europäischen Nachbarn Erfahrungen mit einer selbstbestimmten Kooperation machen. Danach können sie sich immer noch frei entscheiden, ob sie diesen Zustand beibehalten wollen oder nicht.

Wir fordern die Delegierten des SPD-Parteitages in Berlin auf: Lassen Sie der DDR-Bevölkerung die Zeit, die sie zur demokratischen Selbstbestimmung braucht!