Augen zu - und Blick nach vorn

■ Die zweite Runde des außerordentlichen SED-Parteitages in Ost-Berlin kam einem Fiasko nahe

Die hochfliegenden Pläne der SED-Reformer zur Neuorientierung der angeschlagenen Partei scheiterten. Die kritische Bestandsaufnahme der Parteigeschichte prallte an den Delegierten ab. Eine Programmdebatte kam gar nicht erst in Gang. Auch die Umbenennung der Partei endete in einen vorläufigen und schrägen Kompromiß: „SED - Partei des demokratischen Sozialismus“.

Böswillige Zungen werden behaupten, die eine Woche, die Gregor Gysi an der Spitze der SED steht, habe den neuen Hoffnungsträger bereits auf das aktuelle Maß seiner Partei reduziert. Noch am letzten Wochenende hatte der untypische Vorsitzende mit einer sprühend-improvisierten Rede glaubhaft machen können, daß ihm die parteiüblichen „Warenhausreferate“ nicht liegen. Optimisten hatten schon den Kulturbruch in der SED prognostiziert; doch Gysis zweieinhalbstündiger Vortrag zu den aktuellen Aufgaben der SED, mit dem er die Sonntagssitzung des Parteitags eröffnete, zerstörte vorerst solche Hoffnungen. Der Parteichef vollführte seine tour de force durch alle erdenklichen Politikbereiche mit einer Lustlosigkeit, die durch den gehetzten Vortrag vollends zur Tortur wurde - ganz offensichtlich auch für den Redner.

Von der Neugestaltung der Parteiorganisation und des Steueraufkommens über die Staatsverdrossenheit bis hin zur „Aufhebung der Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion“ reichte der dargebotene Problemhorizont. Einige Spitzen wie die ironische Kritik an der neuen Distanz der SPD, die sich doch mit der Honecker-Führung so gut verstanden habe, oder die Abkehr von preußischem Stechschritt und Paradetraditionen bei der Nationalen Volksarmee konnten den miserablen Gesamteindruck nicht kompensieren. Die Delegierten waren ganz offensichtlich zufrieden und klatschten an den mit Sicherheit vorhersagbaren Stellen.

Überhaupt war das Applausverhalten ein sicherer Indikator für den geistigen Zustand und die Bedürfnislage des Parteitages. Geklatscht wurde regelmäßig dort, wo ein Redner das arg gebeutelte Selbstbewußtsein der GenossInnen aufrichtete, das Gros der Parteimitglieder entlastete oder neu-alte Gegner angriff. Ohne das neonazistische Feindbild, die Verklärung und Berufung auf die „saubere“ Traditionslinie des Sozialismus und die klare Schuldzuweisung an die alte Führung wird diese Partei so schnell nicht auskommen. Wie schon am letzten Wochenende gab es wieder die unsägliche Verbindung aus preußischen Tugenden und verunsichert-trockenem Aufbruchspathos, die plastischen Phantasien über den Lebensstil der ehemaligen Führung und die ewige Wiederkehr des redlich-unbescholtenen Genossen. Der eine prangerte die Jäger aus dem ehemaligen Politbüro an, die „exquisit gefüttertes Wild abknallten“, die „bodenlose Verlogenheit“ von „Parasiten“, die wie die „Maden im Speck“ lebten, der andere kompensierte den Frevel durch moralische Aufrüstung: „Sammeln, orientieren, aktivieren“.

Verdrängen, was das

Zeug hält

In der Minderheit blieben diejenigen, die bedächtig -selbstkritisch auf die eigene Verantwortung verwiesen, auf die Notwendigkeit, „in den eigenen Köpfen aufzuräumen“. Vermittelnd griffen diejenigen ein, die den Delegierten den „Blick nach vorn“ empfahlen. Der - so Manfred Herger - sei „jetzt wichtiger als der Blick zurück in Zorn und Verbitterung“. Solche Empfehlungen kamen zwar den massiven Verdrängungsbedürfnissen der GenossInnen entgegen, versuchten aber zugleich der selbstgerechten Schuldzuweisung auf die ehemalige Führung entgegenzuwirken. Daß der Antrag auf persönliche Rechenschaftslegung durch Egon Krenz mit knapper Mehrheit verhindert wurde, war am Ende die beste Entscheidung des Parteitages.

Den spießigen Verfolgern wurde die Chance zum Tribunal genommen, auch wenn dadurch die „rückhaltlose Offenlegung storniert“ wurde. Vielleicht spürte die Mehrheit doch, daß eine Versammlung, deren Desinteresse, persönliche Verantwortung zu übernehmen, derart offensichtlich wurde, kein Recht auf den persönlichen Bericht des ehemaligen Generalsekretärs hatte.

Auch der Versuch des Staatsrechtsprofessors Schumann, die jüngste Vergangenheit kritisch in den historischen Kontext zu stellen, verkümmerte zum Eröffnungsritual. Eine inhaltliche Debatte um den weitgehenden Versuch einer historischen Aufarbeitung kam nicht zustande. Samstag, 12 Uhr 30, war die Bewältigung der jüngeren Vergangenheit und ihrer historischen Traditionslinie beendet.

Doch folgenlos kann der oberflächliche, von vordergründigen Motiven bestimmte Versuch der Gesamtpartei, sich aus der Verantwortung zu stehlen, nicht bleiben. Bei der Suche nach einer Neuorientierung wurde das überdeutlich. Das Dilemma der entschiedenen Reformer bestand darin, daß sie die Stimmung der desolaten Partei berücksichtigen und vor weiteren Belastungen verschonen müssen. Doch gleichzeitig wissen sie, daß die grundlegende Neuorientierung ohne schmerzliche Zumutungen und den Verlust tiefverwurzelter Vorstellungen eben nicht zu haben ist.

Die Programmreformer hatten es folglich mit der Präsentation eines „modernen Sozialismus“ nicht leicht. Dieter Klein, dem Prorektor der Humboldt-Universität, gelang mit seiner Rede der mühsame Balanceakt zwischen den Identifikationsbedürfnissen des Parteitags und den Grundlinien des Programmentwurfs. Die Fragen, die Klein an das Programm stellte, waren nichts anderes als die Kritik der Basis: ob ein neues Programm jetzt nötig sei, was die neue Partei denn noch von der Sozialdemokratie unterscheiden solle und ob denn die neue SED überhaupt noch eine Arbeiterpartei sei. Zielsicher befragte Klein das Programm dort, wo der Bruch mit der bisherigen Linie das Selbstverständnis der GenossInnen allzusehr erschüttert. Klein redete mit Engelszungen für die programmatische Neuorientierung, gegen die Abgrenzung von früher verfemten Traditionen und machte rhetorische Zugeständnisse dort, wo der ursprüngliche Entwurf an der Basis offensichtlich nicht vermittelbar ist: „Diejenigen, die mit ihrer Arbeit die materiellen Werte produzieren, sind die Arbeiter. Ihren Interessen ist die Partei besonders verpflichtet. Das möchte ich hier stärker herausarbeiten, als das im ersten Diskussionspapier der Fall war.“

Programm ohne Partei

Der Entwurf der Humboldt-Reformer ist, das wurde überdeutlich, für die Mehrheit der Partei eine schwer zu verkraftende Zumutung. Wo die Delegierten Orientierungshilfe erwarten, liefert es die intellektuelle Synthese aus bürgerlicher Demokratie und Rätegedanken, aus Plan und Markt, aus individueller und kollektiver Emanzipation. Folgerichtig ging kein Delegierter auf die Gesamtkonzeption eines „dritten Weges“ ein; selbst die Debatte einzelner Punkte kam nicht zustande. Das Programm ist da - fehlt nur die Partei, die es haben will.

Wie gespalten die Zielperspektiven sind, die diese Partei nach der Aufhebung des Linienzwangs vereinen sollen, wurde an der Frauenpolitik drastisch deutlich. Während der Reformentwurf etwa das Ende der „auf den Mann zugeschnittenen Gesellschaft“ fordert, favorisierte eine Leipziger Lehrerin Mutterrolle und „Freiraum“ des Mannes: „Gibt es eine höhere gesellschaftliche Aufgabe, als Mutter zu sein?“ Keine Mehrheitsposition, aber Beifall. Zur offenen Polarisierung kam es nur in der Frage der zukünftigen Wirtschaftspolitik. Ausgerechnet der unglückselige Rudolf Bahro, der sich als Gast des Parteitages mit knapper Mehrheit 30 Minuten Rederecht erkämpfte, entfaltete unter dem zunehmenden Unmut der Versammlung das radikalökologische Wendekonzept für die DDR, den Ausstieg aus dem zerstörerischen „Wettlauf der Trabi- gegen die Mercedes -Wirtschaft“. Das Wirtschaftskonzept der Modrow-Regierung, die mit Hilfe westlichen Kapitals die DDR-Ökonomie auf internationalen Standard sanieren will, hatte die eindeutige Mehrheit.

Das spürte auch der Vorsitzende der Wirtschaftskommission Nowakowski, der mit markigen Worten vor dem Ausverkauf an den Kapitalismus und dem „Verrat der Arbeiter“ warnte. Was jetzt geschehe, sei nach der Demontage der Nachkriegsjahre und der Vertreibung der Intelligenz in den Fünfzigern die „dritte Ausblutung der DDR“. Postwendend wurde ein Antrag auf Abwahl gestellt. Den Prozeß der Namensfindung wollten die Delegierten des Sonderparteitags nicht in aller Öffentlichkeit begehen. In Erwartung kontroverser Debatten wurde die Presse kurzerhand ausgeschlossen - nur ein Beispiel dafür, daß die Partei sich mit der neuen Offenheit noch ziemlich schwer tut.

Vielen Delegierten wird die Vorstellung schlicht peinlich gewesen sein, daß das Abkratzen des belastenden Etiketts über die Bildschirme gehen sollte. Doch auch der nominelle Neubeginn, der bereits am letzten Wochenende mit großer Mehrheit beschlossen worden war, gelang nicht. Der alte Parteiname SED wird - bis zum ordentlichen Parteitag bleiben und mit dem Zusatz „Partei des demokratischen Sozialismus“ ergänzt: SED-PDS. So kamen am Ende der Intellektuellenflügel und die desorientierte Versammlung doch noch auf ihre Kosten. Eine salomonische Lösung, die dem Zustand der Partei angemessen erscheint. Die Übergangslösung begründete Gregor Gysi damit, der Parteitag sei nicht bereit, „sich wegen des Namens zu spalten, zu zerfleischen oder zu zerstören“.

An diesem Satz wird nicht nur klar, wie emotionsgeladen die Namensdebatte geführt wird, sondern zugleich, daß die Partei auch nach dem Führungswechsel eher um die bloße Existenz als um politische Handlungsfähigkeit ringt. Der Prozeß der Neubenennung müsse basisdemokratischer verlaufen, und zudem sei das Parteivermögen, angesichts der unklaren Rechtslage, durch die Umbenennung gefährdet. Die Delegierten feierten Gysis knappe Zusammenfassung mit stehenden Ovationen.

Matthias Geis