Willy Brandt ist die zentrale Figur

■ Das Häuflein der Bremer SPD-Delegierten „tut sich schwer mit der deutschlandpolitischen Debatte auf dem SPD-Parteitag in Berlin

Vielleicht zweitetausend Menschen durchfluten das Berliner Congreß-Centrum ICC, tausend davon im großen Saal des SPD -Parteitags. Vorn sitzen die 441 Delegierten, die - formal jedenfalls - hier das Sagen haben. In der vierten Reihe sechs Bremer Gesichter: Heiner Fleging aus Bremerhaven, Detlev Albers und Jutta Kellmann-Hoppensack aus dem Bremer Westen, Gerd Markus und Tine Wischer aus dem Unterbezirk Ost, Dettmar Leo aus Bremen-Nord. Obwohl vorn auf dem Podium Bremen mit zwei Männern vertreten ist - Henning Scherf und Hans Koschnick - sind sich die Bremer Delegierten ihres geringen Einflusses hier voll bewußt. Der Hochschullehrer Detlev Albers hofft zu Beginn der Rede Willy Brandts noch, daß er auf der Redeliste einen realistischen Platz bekommt.

Im Vorfeld waren die Bremer Delegierten war auch Dettmar Leo unter denen, die eine Änderung der deutschlandpolitischen Erklärung durchsetzen wollten - sie konnten sie sich nicht durchsetzen. Das nationale Pathos stört sie, die Konkretisierungen eines Einigungs-Prozesses. Bei der Rede des Berliner Bürgermeisters Momper klatschen gibt es Beifall aus den Bremer Reihen für die Behauptung, die Wiedervereinigung würde nichts von dem beantworten, „was den Menschen wichtig ist“.

Was ist das für ein Gefühl, als Sozialdemokrat für die deutsche Einheit streiten zu sollen? Tine Wischer: „Ich tue mich persönlich da sehr schwer, auch mit der Erklärung, so wie sie vorgelegt worden ist.“ Die vordringliche Frage für sie ist nach wie vor das „vereinte Europa“.

Detlev Albers, Streiter für einen demokratischen Sozialismus und für ein Bündnis mit der bundesdeutsche DKP, will von staatlicher Einheit nichts wissen: “ Ich bin dafür, daß wir behutsam mit einer Annäherung an die deutsche Frage umgehen. Die Konföderation hat für mich kein Malus gegenüber einem nationalen Einheitsstaat.“ Natürlich müsse sich sich die DDR der Weltwirtschaft öffnen und damit bestehe die “ Gefahr der Dominanz des West-Kapitals. Daß dies einem gleichberehtigten nebeneinandr zweier Staaten widerspricht, sieht Albers nicht: “ Es gibt da keine Automatismen.“

Gerd Markus, von Beruf Chefplaner in der Bremer Senatskanzlei, geht die auch unter Sozialdemokraten verbreitete Euphorie zu weit: „Ich habe keine Probleme mit der Öffnung der DDR, mit der von der Bevölkerung gewünschten Entwicklung. Aber hier klinken sich viele zu schnell in die Euphorie ein und machen Vorschläge, über die in gründlicheres Nachdenken erforderlich wäre. Hier wird schon über Währungsunion gespochen und die Form, in der wir helfen, schon präziert. Das sind quasi Blanko-Schecks, deren Konsequenzen wir nicht übersehen.“ Einverstanden ist Markus mit direkten staatlichen Wirtschaftshilfen oder einem westdeutschen Fonds, aus dem die nötigen Devisen transferiert werden.“ Aber die SPD-Politik will die DDR -Wirtschaft mit Hilfe der Privatwirtschaft aufbauen. “ Das kann nur zu den Problemen führen, die wir selbst damit haben. Die Investitionen der Privatfirmen müssen notwendig zu Kapitalrückflüssen führen, die auf mittlere Sicht beim weiteren Aufbau der DDR auch benötigt werden. Hier werden ein bißchen schnell Vorschläge gemacht, die wir kaum übersehen und die unter uns nicht ausdiskutiert sind“, kritisiert Markus.

Gleichzeitig erkennt er die Autorität Willy Brandts an: „In deutschlandpolitischen Fragen ist Willy Brandt die zentrale Person“, keiner in der Partei könnte im Ernst auch nur einen Teil der Autorität für sich beanspruchen wie der frühere Berliner Bürgermeister und Kanzler der „neuen Ostpolitik“.

Unter einem ganz anderen Blickwinkel und ohne Distanz sieht das SPD-Präsidiums-Mitglied Henning Scherf die Deutschland -Debatte. „Die Sozialdemokratie hatte ihre Hochburgen in Sachsen und Thüringen. Adenauer hätte die Wahlen nicht gewonnen, wenn die hätten mitwählen können. Deshalb ist die Nachkriegszeit auch aus innenpolitischen Gründen durch die betonte Westintegration Adenauers bestimmt gewesen. Jetzt plötzlich ist die Mauer weg, Gorbatschow verkündet das europäische Haus, plötzlich wächst alles zusammen.“

Auch Scherf hat in den vergangenen Jahren zu denen gezählt, für die dias Gerede über Wiedervereinigung nur das Geschäft der kalten Krieger sein konnte. „Es gab nie eine Chance dafür, das waren immer so rückwärts gewandte Geschichten, wir haben gesagt: Blockiert doch damit nichts. Wir haben doch ganz andere Probleme. Nun ist plötzlich eine neue Lage entstanden, durch das Zusammenbrechen des Ostblocks und dessen, was wir 'real existierender Sozialismus‘ genannt haben. Und da kommen ganz viele Menschen mit ganz vielen Hoffnungen auf uns zu. Es gibt immer mehr stimmen, gerade auch unter den Linken, die sagen: ‘ Schüttet das nicht zu. Errichtet keine neuen Mauern.'“

Als Sozialpolitiker weiß Scherf aus seiner Behörde, wie dringend schnelle wirtschaftliche Hilfe für die DDR ist: „Dieses Öffnen de Mauern, dieses neue Europa erwartet von der Bundesrepublik einen unübersehbaren Finanzierungsanteil. Das kostet uns so oder so von unserem Wohlstand, auch wenn hunderttausende rüberkommen und sich hier anstellen bei den Sozialversicherungsträgern. Es wäre viel vernünftiger, dieses Geld zu nehmen und in der DDR Projekte zu finanzieren.“ So richtig warm geworden ist allerdings auch Scherf mit der ganz neuen Lage noch nicht: „Die Hoffnung habe ich, daß wir die Frage der deutschen Einheit integrieren können in ein großes gesamteuropäisches Projekt.“

K. W.