Die Kripo noch ganz dicht?

Merkwürdige Ermittlungsmethoden gegen AKW-Gegner, der Protestgedichte schrieb / Göttinger Kripobeamte suchten den Schulleiter an seinem Arbeitsplatz auf und fragten nach seinem Geisteszustand  ■  Von Reimar Paul

Göttingen (taz) - Mit merkwürdigen Ermittlungsmethoden geht die Göttinger Polizei gegen einen Schulleiter vor, weil er sich in Briefen und Gedichten seine eigenen Gedanken über das Atomkraftwerk Würgassen macht. In einer Unterrichtspause vernahmen Kripobeamte den Lehrer, während sich andere Beamte bei einer Nachbarin nach dem Geisteszustand des Mannes erkundigten.

Der 49jährige Lehrer Karl Gebauer engagiert sich seit Jahren gegen den ostwestfälischen Uraltreaktor, nimmt an Demonstrationen, Blockaden und Flugblattaktionen teil - und schickt gelegentlich auch Briefe und Gedichte zum Thema an die für den Betrieb des Reaktors verantwortlichen Politiker. Ende April zum Beispiel, es war der dritte Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, gingen aus Göttingen „Neun Lettern zum 26.4.“ ab, adressiert an Johannes Rau, Klaus Töpfer und andere.

Am 27. Oktober - kurz zuvor war der Großbrand im spanischen AKW Vandellos I bekanntgeworden - folgte das Gedicht Vandellos oder Würgassen. Gebauer wies auf erhebliche Sicherheitsmängel in Würgassen hin, die im Gutachten der Elektrowatt-Ingenieurunternehmung (EWI) für die Düsseldorfer Landesregierung zwar aufgelistet, öffentlich jedoch immer noch nicht bekannt seien: die fehlende Brandschutzabschottung zwischen Reaktorgebäude und Maschinenhaus, nicht feuergeschützte Kabelführungen zu den Sicherheitssystemen und andere Mängel. Mit diesem Schreiben an die Politiker, ist Gebauer nun überzeugt, habe er „wohl in ein Wespennest gestochen“.

Denn wenige Wochen später traten zwei Kripobeamte in einer Unterrichtspause an den Schulleiter heran. Ob er, Gebauer, Verfasser der fraglichen Gedichte sei, wollten die Besucher wissen, angeblich im Auftrag der Kriminalpolizei Höxter, auf deren Kreisgebiet das AKW Würgassen steht. Der Bitte Gebauers, ihm auf sein Dienstzimmer zu folgen, statt weiterhin auf dem stark frequentierten Flur zu verhandeln, folgten die Polizisten nicht.

Andere Beamte hatten sich zwischenzeitlich zu Gebauers Haus aufgemacht und eine Nachbarin mit der Frage konfrontiert, ob der Schulleiter eigentlich „noch ganz dicht sei, dem Ministerpräsidenten Gedichte zu schicken?“ Die Kripo in Höxter qualifizierte den Vorfall als „routinemäßige Gefahrenermittlung im Vorfeld eines Verdachts“. Die Art der Ermittlungen sei Sache der Göttinger Kollegen gewesen.

Die halten sich vorläufig ebenfalls bedeckt. „Erst nach der Antwort auf die Anfrage der Grünen“ werde man Auskünfte erteilen, hieß es. Die Grünen im Landtag in Hannover nämlich wollen von der Albrecht-Regierung wissen, weshalb gegen Gebauer überhaupt ermittelt wird und warum die Vernehmung „publikumswirksam“ an seinem Arbeitsplatz stattfand. Die Abgeordneten fragten weiter, ob die Landesregierung die Göttinger Polizei darauf hinzuweisen gedenke, daß die Psychatrisierung politischen Widerstandes nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch hier unrecht sei. Auch der Verband Deutscher Schriftsteller (VS) in Niedersachsen protestierte gegen den Versuch, „Briefe- und Gedichteschreiben zu psychiatrisieren“.