Parteilinke kritisieren Automatismus

Holzgetäfelte Wände, ein Bild von Richard von Weizsäcker an der Wand: in einem Saal des Schöneberger Rathauses findet bereits am Sonntag abend ein Parteitag statt - der SPD -Linken vom „Frankfurter Kreis“. Die Kulisse animiert zu großen Reden, kämpferischen Reden, von denen jeder weiß, daß sie nur hier und nicht auf dem großen Parteitag am nächsten Tag im Internationalen Congress Centrum gehalten werden. Der Name des Parteivorsitzenden Hans-Jochen Vogel fällt an diesem Abend nicht, aber er ist gemeint, wenn sich die Attacken vor allem gegen die Bundestagsfraktion richten: Der unvergessene Kotau vor dem Kohlschen Wiedervereinigungsplan dürfe nun nicht einfach „in der Schublade verschwinden“, fordert zum Beispiel Dieter Dehm, und er benennt den Schaden für die Partei in Zahlen: „Voigt hat uns drei Prozent Stimmen gekostet.“ Karsten Voigt, dessen Verbeugung vor dem Kanzler hier auf dem Schöneberger Rednerpult noch einmal höhnisch nachgespielt wird, zieht es vor, an diesem Abend bei der Antragskommission für den Parteitag zu sitzen.

Herbe Kritik an der Führung - doch wie man sich nun zur deutschen Einheit verhalten will, darüber herrscht auch in diesem Kreis keine Einigkeit. Von einer „uns zerfetzenden Frage“ spricht der Bremer Henning Scherf - und seine rechte Hand am weit ausgestreckten Arm rotiert dabei wie ein Propeller in der Luft. Ist die staatliche Einheit eine „letztlich zu vernachlässigende Frage“, wie ein Bundestagsabgeordneter meint? Oder muß jetzt die Souveränität der DDR „festgezurrt“ werden und nichts anderes, wie ein Lübecker Genosse fordert? Konsensfähig ist im „Frankfurter Kreis“ ein Mittelweg: Der Automatismus von der Konföderation zur staatlichen Einheit muß gestoppt werden.

Das ist vor allem die Linie der baden-württembergischen Parteispitze: „Wir brauchen eine konkrete Option, mit der die Partei den Bundestagswahlkampf führen kann.“ Wenn die Union mit der Wiedervereinigungsparole komme, dann könne die SPD doch nicht eine „deutsche Wundertüte“ dagegenhalten, die von der Vertragsgemeinschaft bis zur bundesstaatlichen Einheit alles enthalte. Die Konföderation, das müsse die zentrale Botschaft dieses Parteitags sein. Im Plenum wird dann auch am Montag ein Antrag der Linken eingebracht, die deutschlandpolitische Erklärung entsprechend auszubauen: Die Konföderation, so heißt es darin, „vermeidet die Gefahr der Majorisierung oder Bevormundung“, und sie ermögliche den „beiden souveränen Teilstaaten“, auf einen europäischen Bundesstaat hinzuwirken.

Aber direkt gegen die bundesstaatliche Einheit plädieren, das wollen die meisten SPD-Linken lieber nicht. „Auch in diesem Kreis sind wohl einige von der panischen Angst befallen, sie könnten als Personen bei der Wiedervereinigung zu spät kommen“, höhnt zwar ein Berliner Kritiker. Und ein anderer fühlt sich angesichts der „linkssozialdemokratischen Taktierereien“ an den Berliner Nachrüstungsparteitag 1979 erinnert, wo man auch versucht hätte, dies und das hineinzuformulieren.

Doch diese Mahner bleiben in der absoluten Minderheit. Denn für gewagt halten manche bereits, was nun beschlossen wird: ein Antrag, den Begriff von der bundesstaatlichen Einheit in der Parteitagserklärung durch den Zusatz „vielleicht“ noch weiter in die Ferne der Beliebigkeit zu rücken. Daß dies bereits ein großes Wagnis sei, wird am Montag durch Gerüchte bestätigt: Der Parteivorsitzende mache Druck, die rund 40 Unterzeichner sollten ihren Antrag wieder zurückziehen, damit „diese ganze Debatte“ nicht wieder aufbreche.

„Oskar hat recht“

Für den als wahrscheinlich angesehenen Fall, daß dieser Antrag von der Parteitagsmehrheit am frühen Montag abend abgeschmettert würde, hatten sich die SPD-Linken bereits vorsorglich einen schon verbuchten Erfolg zurückgelegt: daß die deutschlandpolitische Erklärung nun ein Sofortprogramm für die DDR-Hilfe enthalte, gehe nämlich auf ihren Druck zurück.

Und wenn auch der Name Vogel am Sonntag abend nicht fiel, so wurde dafür ein anderer um so häufiger genannt: Lafontaine. Dessen sozialpolitische Vorstöße in der Deutschlandpolitik seien auf jeden Fall zu unterstützen. „Oskar hat in der Form unrecht, aber im Inhalt recht, und die Form kann ja noch eleganter werden“, so formuliert einer aus der Bonner Fraktion den nahezu einhelligen Rückhalt der Linken für den Saarländer.

Charlotte Wiedemann