Die SPD sitzt zwischen den Stühlen

■ Das deutschlandpolitische Programm der SPD bleibt blaß / Deutsche Einheit „in welcher Form auch immer“

Der erste Tag des Berliner Parteitags der SPD stand ganz im Zeichen der „deutschen Frage“. Mit einer Berliner Erklärung zu den „Deutschen in Europa“ wollte man gegenüber der CDU aus der Defensive treten und gleichzeitig die eigenen Reihen schließen.

Sollte die SPD die Bundestagswahlen im Dezember nächsten Jahres verlieren - seit ihrem gestrigen Parteitag in Berlin wissen wir, woran die Genossen gescheitert sein werden. Rund zehn Lebensjahre trennen die Partei von einem Kanzlerkandidaten, der offenbar für alle der Mann der Stunde ist. Willy hier und Willy da; Brandt am Tage seines 76.Geburtstages am Ort seiner größten Niederlage zeigte sich auf dem Berliner Parteitag der Sozialdemokraten als der unangefochtene Star in West und Ost. Der Glaube an Willy habe die sozialdemokratische Tradition in der DDR (so ein SDP-Vertreter) wachgehalten, das Vermächtnis des Ehrenvorsitzenden - so Parteichef Vogel - wird er sich bemühen, in die Tat umzusetzen.

Daß er dabei in typischer Vogel-Manier zu Werke ging, gehört zu den Schwächen der heutigen SPD. Da die SPD zu ihrem großen Leidwesen in dieser historischen Situation nicht dazu aufrufen kann, „Willy zu wählen“, präsentiert sie statt dessen ein Programm. Da das Programm angesichts der historischen Situation aber nur wenig Interesse findet, präsentiert der Parteivorstand eine sogenannte Berliner Erklärung: „Die Deutschen in Europa.“

Europa und die Deutschen, Antagonismus oder integraler Bestandteil, um diese Frage rankten sich denn auch die Reden Brandts, Vogels, Mompers und selbst des Gastes aus der DDR, SDP-Vertreter Markus Meckel. Der gemeinsame Tenor: Die Deutschen sind fester Bestandteil auf dem Weg eines geeinten Europas, niemand brauche mehr vor den Deutschen Angst zu haben, jedenfalls nicht, wenn die Sozialdemokratie die Geschicke des Landes bestimmen kann. Denn: „Wir haben aus unserer Geschichte gelernt. Wir bedrohen niemanden und wollen niemanden unseren Willen aufzwingen. Wer anderes im Sinn haben sollte, wer wieder deutschen Hegemonieträumen nachhängen sollte, dem wird die SPD mit äußerster Entschiedenheit und Härte entgegentreten“, rief Vogel in den Saal des ICC.

Wo die Konkurrenz von der CDU verkündet, dies sei die Stunde der Deutschen, erkennt Jochen Vogel die Stunde Europas. „Wenn es (Europa) diese Chance ergreift, wenn es den Deutschen hilft, zu neuen Formen des Zusammenlebens zu finden, dann rückt die europäische Friedensordnung, das gemeinsame Haus ein großes Stück näher. Dann wird eine Utopie schneller Wirklichkeit, als wir lange geglaubt haben.“

Allein, diese Perspektive vermag die Delegierten des Parteitages nicht von ihren Sesseln zu reißen. Vogel bleibt blaß, die Partei raschelt mehr in ihren Papieren, als in die Hände zu klatschen. Der Kontrast zwischen der historischen Situation und der seltsamen Emotionslosigkeit, die sich über weite Strecken wie eine verbreitete Langeweile ausnimmt, ist noch krasser, als Berlins Bürgermeister Momper redet. Momper setzt bewußt Vernunpft kontra Emotionen. Die SPD solle sich hüten, sich der Fragestellung der CDU - bist du für oder gegen die Wiedervereinigung - aufzwingen zu lassen. „Das ist eine emotionele Fragestellung, die alte und neue nationalistische Gefühle mobilisiert, aber nichts von dem beantwortet, was den Menschen wichtig ist. Statt dessen gefährdet das nationale Geschrei nach der Wiedervereinigung Gorbatschow und „schiebt den deutschen Nationalismus vor unsere europäische Einbettung und gefährdet sie.“ Damit schiebt sich die Nation vor Europa, „wo wir doch gerade dabei sind, nationales Denken zu überwinden“.

Momper will nicht für abstrakte Ziele kämpfen, sondern praktische Probleme angehen. Das wollen seine Genossen sicher auch, aber Mompers Plädoyer für die Vernunft, das wissen alle im Saal, ist kaum geeignet, die Massen zu mobilisieren. Noch hilft der Verweis auf ein Europa ohne Grenzen wenig gegen das nationale Hoch, das nun die CDU anfacht. So bleiben denn auch die Sozialdemokraten an der Formel hängen, für die Einheit der Nation - doch bitte ohne Nationalismus. Oder, um mit Brandt zu sprechen, „was zusammengehört, muß auch zusammenwachsen“ - in welcher Form auch immer.

Solange diese Form nicht geklärt ist, setzt die SPD mit Vogel auf eine Konföderation, die enge kooperation zweier Staaten unter einem europäischen Dach. Im übrigen, so Brandt, wird die Einheit der Nation von unten hergestellt wie immer statusbedachte Diplomaten darauf reagieren werden. Ohne eine Figur wie Brandt, der Emotionen binden und trotzdem glaubwürdig gegen den Hurra-Patriotismus angehen könnte, wird die SPD es schwer haben, ihre Gratwanderung erfolgreich in Wählerstimmen umzusetzen.

Jürgen Gottschlich