„Scheißliberale“

■ Von der Nachrüstung zur deutschen Einheit - „Schicksals„-Parteitage der SPD im ICC

„SPD-Sicherheit für die achtziger Jahre“ - mit diesem Spruch protzten die Sozialdemokraten fast auf den Tag genau vor zehn Jahren auf ihrem Parteitag in Berlin. Tagungsort war damals wie heute die Kongreßhöhle ICC, aber die Umstände waren andere. Atomprogramm und Nato-Nachrüstung hieß die klare Marschroute damals. Von „Willy-Wählen-Euphorie“ keine Spur, Schmidt-Schnauze war der Macher und Hans Apel, heute vorwiegend mit der Befindlichkeit des Bundesligisten FC St. Pauli befaßt, agitierte für die Nato-Nachrüstung. Rund 75 Prozent der Delegierten hoben die Arme für die Stationierung von Cruise Missiles und Pershing-II-Raketen. Dafür war draußen auf der Straße mehr los: 20.000 demonstrierten gegen Atomwaffen und skandierten „Zieht dem Schmidt die Hosen stramm, Schluß mit dem Atomprogramm“. Auf die meinungsbildende Unterstützung demonstrationsfreudiger BürgerInnen mußten Sozialdemokraten jetzt bei ihrem Ringen um das Wie und Warum der deutschen Einheit verzichten. Statt AtomgegnerInnen zogen gestern allenfalls Ost- und Westberliner auf dem Weg zu weihnachtlichen Grabbeltischen in der Wilmersdorfer Straße vorbei. Demonstriert wird diesmal drüben in der Hauptstadt - gegen Kohl und dessen Wiedervereinigung. Die Linken in der Partei sitzen dabei übrigens genauso ratlos im Monsterbau des ICC wie vor zehn Jahren. Damals hielt immerhin Walter Jens eine flammende Rede - gegen Strauß, die Raketenrüstung, die Zensurgesetze und für mehr Rückgrat. „Wir galten vor zehn Jahren als Scheißliberale“, sagte er 1979, „und stehen heute auf der äußersten Linken. Da muß doch wer anderer marschiert sein.“

anb