Berliner Erklärung der SPD

Auszüge aus der vom Parteitag verabschiedeten Fassung  ■ D O K U M E N T A T I O N

(...) V.

1. Die SPD schlägt vor, daß beide deutsche Staaten ein Sofortprogramm vereinbaren, Ziel des Sofortprogramms ist es, Reformen und Reformer zu unterstützen und die werdende Demokratie wirtschaftlich abzusichern. Das soll den Menschen begründete Zuversicht geben, daß es für sie und ihre Kinder sinnvoll ist, in der DDR zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Wenn es nicht gelingt, drohende Engpässe und Einbrüche in wichtigen Versorgungsbereichen in der DDR in den nächsten Wochen und Monaten zu verhindern und die Lebenssituation zu verbessern, wird die Abwanderung aus der DDR sprunghaft zunehmen. Die vorhandenen personellen Engpässe würden massiv verstärkt und damit dem ökonomischen Reformprozeß von vornherein die Grundlage entzogen.

Daher sind unter Beteiligung von Bund, Ländern und Gemeinden kurzfristig wirksame Maßnahmen zur Behebung von Versorgungsengpässen notwendig, insbesondere:

-Lieferung von medizintechnischer Ausstattung in Zusammenarbeit mit den in der Bundesrepublik ansässigen Herstellern;

-Unterstützung der ärztlichen Betreuung in der DDR unter Beteiligung der karitativen Organisationen und Ärztekammern;

-Vorbereitung kurzfristiger zusätzlicher Stromeinspeisung angesichts der im Winter erwartbaren Energie- und insbesondere Stromengpässe sowie der akuten Probleme der Luftbelastung;

-Lieferung von Steinkohle für den Kraftwerksbetrieb und den Hausbrand, auch aus Beständen der Energieversorgungsunternehmen;

-Lieferung moderner Bautechnologien und Unterstützung beim Projektmanagement sowie bei der Einrichtung von Baustoffmärkten;

-Vermittlung der Kooperation von Reiseunternehmen mit Partnern der DDR unter Einbeziehung von Ferienheimen und Privatunterkünften sowie im Austausch von Urlaubs- und Ferienangeboten in Fremdenverkehrsregionen der Bundesrepublik;

-gemeinsame Maßnahmen zur Förderung des Sports für die Bürger beider deutscher Staaten.

Wirtschaftspolitisch sind folgende Sofortmaßnahmen einzuleiten:

-währungspolitische Zusammenarbeit sowohl im Außenhandelssektor als auch im Binnenverhältnis, um volkswirtschaftliche Nachteile aus unrealistischen Wechselkursen für beide Staaten zu vermeiden;

-Beginn des Ausbaus der Infrastruktur, insbesondere der Kommunikationsnetze, der umweltverträglichen Energieerzeugung, des Verkehrs, insbesondere auf der Schiene, und der Stadterneuerung und Erhaltung historischer Bausubstanz. Dazu sollen Projekte vereinbart werden, die von der Bundesrepublik finanziell und durch Lieferung von Maschinen und Material unterstützt werden. Dafür ist auch das Instrument des Überziehungskredits im innerdeutschen Handel (Swing) zu nutzen;

-Rahmenbedingungen für gemeinsame Unternehmen und private Investitionen in der DDR durch Unternehmen aus der Bundesrepublik Deutschland;

-gemeinsame Maßnahmen zur Förderung des deutsch-deutschen Luftverkehrs unter Einschluß Berlins.

2. Die neue Qualität des Zusammenlebens der Deutschen verlangt praktische Solidarität und soziale Gerechtigkeit. Es ist notwendig, eine deutsch-deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik zu entwickeln, um zu verhindern, daß die Sozialsysteme und die Arbeits- und Wohnungsmärkte in beiden deutschen Staaten beeinträchtigt werden. Die finanziell und sozial Schwächeren in unserer Gesellschaft verlangen nach sozialer Gerechtigkeit. Sie dürfen weder auf dem Wohnungs noch auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt werden.

Die wiedergewonnene Freizügigkeit führt dazu, daß die Risiken in den Sozialsystemen beider Staaten nicht mehr getrennt kalkuliert werden können. Deshalb müssen die in der Bundesrepublik vor allem auf die Nachkriegssituation und die bisherige Unfreiheit in der DDR und in den osteuropäischen Staaten zugeschnittenen Gesetze überprüft werden. Wir sollten solche Regelungen überprüfen, die eine Abwanderung begünstigen. Gleiches gilt auch für die Regelungen über die Anerkennung von Rentenansprüchen. Dies ist wichtig für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in der DDR und liegt im Interesse der Menschen in beiden Staaten, die zu einer grenzüberschreitenden Solidargemeinschaft finden müssen.

3. Die SPD schlägt vor, eine Vertragsgemeinschaft mit mittelfristigen Zielen zu vereinbaren. Diese soll als Vorstufe zu einer Konföderation gemeinsame Gremien, Institutionen und Konferenzen vorsehen und sich insbesondere auf die Gebiete von Wirtschaft, Umwelt, Verkehr, Energie und Kultur sowie Wissenschaft und Technologie mit dem Ziel erstrecken, die Lebensverhältnisse in beiden deutschen Staaten anzugleichen. Dazu gehören unter anderen:

-freie Wahl des Wohnsitzes zwischen beiden deutschen Staaten, mit einer Regelung der Staatsangehörigkeit, die jedem Deutschen die Möglichkeit einräumt, in jedem der beiden Staaten als Bürger mit gleichen Rechten und Pflichten zu leben;

-Vorbereitung einer Währungsgemeinschaft;

-Neuordnung des Verhältnisses der DDR zur Europäischen Gemeinschaft;

-Aufhebung sämtlicher Handelsbeschränkungen im innerdeutschen Handel;

In diesem Zusammenhang setzen wir uns für die Aufhebung der COCOM-Liste ein.

4. Die Größe der Aufgabe verlangt auch neue Ansätze zur Senkung des Rüstungsetats. Wir wollen die Modernisierung der östlichen und unserer Volkswirtschaften statt der Modernisierung der Waffen. Wir wollen sozialen Wohnungsbau und Modernisierung der Wohnungen in der DDR statt neuer Kasernen. Wir wollen Milliarden für neue Verkehrsverbindungen zwischen Ost und West statt neuer Militärflugplätze. Wir wollen, daß junge Menschen beim Wiederaufbau helfen können, statt einen zu langen Wehrdienst zu leisten. Auch wir im Westen müssen neu denken lernen.

Dementsprechend müssen beide deutsche Staaten gemeinsam Initiativen zur Beschleunigung der Abrüstung ergreifen. Dazu gehören Vorschläge

-für die zweite Phase der Wiener Verhandlungen mit dem Ziel struktureller Angriffsunfähigkeit;

-für den Abbau aller auf ihrem Boden befindlichen atomaren Waffen, insbesondere aller nuklearen Kurzstrecken- und Gefechtsfeldwaffen;

-für eine fühlbare Senkung der Rüstungsausgaben.

(...) VIII.

Wer den Prozeß der deutschen Einigung voranbringen will, muß die Interessen der Großmächte und der europäischen Nachbarn berücksichtigen. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir auf den Helsinki-Prozeß gedrängt. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, an der 33 europäische Staaten, die USA und Kanada teilnehmen, wird eine europäische Friedensordnung schaffen, in die auch das Zusammenleben der Deutschen eingebunden ist. Spätestens dann sollen die verbliebenen Vorbehaltsrechte der vier Mächte entfallen. Die Helsinki-Konferenz hat den Weg zu Vertrauen und Abrüstung geebnet. Ihre Prinzipien sollten völkerrechtlich verbindlich werden. Sie muß sich eigene Institutionen schaffen, z.B. für den Umweltschutz und eine Sicherheitsbehörde, die zur Kontrolle der Wiener Abrüstungsvereinbarungen beiträgt. Die SPD unterstützt eine Gipfelkonferenz der 35 Staaten im Jahre 1990, um die dann vorliegenden Ergebnisse der Abrüstung in Kraft zu setzen. Unmittelbar nach dem ersten Wiener Abrüstungsabkommen sollten weitere Verhandlungen mit dem Ziel vereinbart werden, die Streitkräfte um mindestens 50 Prozent zu reduzieren und strukturelle, verläßlich kontrollierbare Angriffsunfähigkeit zu erreichen. Die bestehenden Bündnisse können dann durch ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem ersetzt werden. Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen.