Vielvölkerstadt Temeswar

Sechs Jahre alt war ich, als meine Eltern es geschafft hatten, vom Lande in die Stadt zu ziehen. Einfach war das nicht. Schon damals. Um einen Wohnsitz in der Stadt zu erhalten, mußte man erst eine Arbeitsstelle in der Stadt nachweisen können. Wenn man aber einen Arbeitsplatz suchte, wurde man für gewöhnlich zuerst gefragt, ob man festen Wohnsitz in der Stadt habe.

Irgendwie gelang es meinen Eltern, diese Hürden zu überspringen, und plötzlich ging ich in der Stadt in den Kindergarten. In den deutschen Kindergarten. Mir war das ganz selbstverständlich. Genauso selbstverständlich war es mir, wenn ich auf der Straße einen Menschen nach etwas fragen wollte, es auf Rumänisch zu tun, in der Sprache, die ich als zweite erlernt hatte. Und daß der Nachbarjunge, mit dem ich öfter spielte, ein Ungar war, war mir auch selbstverständlich. Wir sprachen Rumänisch miteinander.

Nur wenn mal am Vorabend im Fernsehen ein Kriegsfilm gezeigt wurde, in dem alle Deutschen bitterböse und alle Rumänen herzensgute Menschen waren, geschah es, daß mir Kinder auf der Straße „Du Faschist!“, „Du Hitlerist!“ nachriefen, wenn ich mit anderen Deutsch sprach. Was aber diese beiden Wörter bedeuteten, wußte ich damals noch nicht.

Ich wuchs heran und lernte allmählich die Stadt kennen. Ich befreundete mich mit Straßenbahnschaffnern und fuhr so, mit ihnen plaudernd, kreuz und quer durch die Stadt. Kostenlos. Temeswar war im allgemeinen eine gemütliche Stadt. Und später, als ich bewußt durch das Land reiste, konnte ich feststellen, daß sie auch anders war als andere Städte Rumäniens. Die vielen Jahre der K.u.k.-Monarchie des alten Österreich-Ungarn konnten doch nicht so schnell weggewischt werden.

Schließlich gehört das Banat erst seit 1919 zu Rumänien für den Anschluß hatten damals vor allem die Rumänen und die Banater Schwaben gestimmt. Viele Jahre wurde Temeswar noch als „Klein-Wien“ bezeichnet. Daß das wirklich zutraf, konnte ich erst vor einem Monat feststellen, als ich zum ersten Mal in Wien war. Nicht nur die architektonische Ähnlichkeit ist verblüffend; es gibt sogar Straßen (und Gassen), die in Wien denselben Namen haben, wie sie von den Alt-Temeswarern in ihrer Heimatstadt immer noch genannt werden

Aber nur von den Alt-Temeswarern oder von denjenigen Jüngeren, die diese Bezeichnungen von den Älteren aus Gewohnheit übernommen haben. Es gibt in Temeswar Straßen, die haben mindestens drei Bezeichnungen: eine deutsche, eine ungarische und eine rumänische. Doch auch Serbisch und Bulgarisch sprach man in Temeswar. Die Juden sprachen gewöhnlich Ungarisch und Deutsch. Die Roma wurden und werden, wie überall in Rumänien, an den Rand gedrängt.

Es war das Jahr 1965, als ich mit meinen Eltern nach Temeswar zog. Im selben Jahr fand an der Parteispitze ein Führungswechsel statt. Nicolae Ceausescu, eine Figur, die bis dahin ziemlich im Schatten gestanden hatte, wie ich mich später informieren konnte, übernahm die Macht.

Schon als Schüler durfte ich feststellen, daß die Gemütlichkeit, von der ich so schwärmte, eigentlich im Verschwinden begriffen war. Der Stadt wurde gewaltsam das Gesicht verändert. Und auch die Atmosphäre verhärtete sich. Es war Ceausescus Hauptanliegen, die Unterschiede im Land verschwinden zu lassen. Und dabei ging er nicht so vor, die (auch wirtschaftlich) weniger entwickelten Landesteile voranzutreiben, sondern die Gebiete, die in irgendeinem Bereich fortgeschrittener waren als andere, in ihrer Entwicklung zu bremsen. - Doch in Temeswar wehte immer noch ein anderer Wind als in großen Landesteilen, liegt diese große Stadt doch im Dreiländereck nahe zur jugoslawischen und zur ungarischen Grenze. Der ständige Besuch aus den benachbarten und aus westlichen Ländern hinterließ seine Spuren. Ungarisches und vor allem jugoslawisches Fernsehen gehörte zum Abendprogramm der meisten Menschen.

Nicht umsonst hat Ceausescu diese Stadt, diesen Landesteil nie gemocht und nie gerne besucht - es sei denn in früheren Zeiten, um sich mit Tito hier zu treffen.

Helmuth Frauendorfer (Deutschsprachiger Schriftstelle

aus Rumänien; seit Ende 198

in West-Berlin