„Je veux mon image!“

■ Claude Chabrol dreht in West-Berlin „Dr.M“, eine Hommage an Fritz Lang

Gerhard Midding

Wie soll man sich ein Bild machen von einem Film, den man noch nicht gesehen hat? Von einem Film, der gerade erst entsteht? Dr.M ist ein Ensemble, dessen einzelne Elemente mehr oder weniger bekannte Größen sind - nicht zuletzt, weil die Dreharbeiten zu den bestpublizierten gehören, die je in Berlin stattfanden. Die bekannten Größen: Eine Hommage an die Mabuse-Filme Fritz Langs soll der Film werden, ein Film über den „Geist der Zerstörung“, inszeniert von Claude Chabrol und fotografiert von Jean Rabier. Die unbekannten Größen: ein vorgeblich deutscher Film, in englischer Sprache, mit internationaler Besetzung. Wie soll ich mir den Stil des Films vorstellen? Wird es ein Chabrol-Film werden? Ein Fritz-Lang-Film? (Wie sollte ein solcher Film heute aussehen?)

In die Kinos wird Dr.M im nächsten Jahr kommen, in dem sich Fritz Langs Geburtstag zum hundertsten Mal jährt. Einer der Ausgangspunkte dieser Hommage ist eine Idee aus Langs letztem Filmprojekt, um dessen Realisierung sich Chabrol Ende der 60er Jahre in Frankreich erfolglos bemühte. Es ist eine typische Fritz-Lang-Idee, die das den Regisseur seit jeher faszinierende Thema des Menschen als Teils einer Maschine (und dessen Umkehrung) besaß: der Bösewicht des Films sollte ein Herz aus Metall haben, das er von Zeit zu Zeit wieder aufladen muß.

Für den Drehbuchautor Thomas Bauermeister war es ein Anreiz, eine Verbrecherfigur wieder aufleben zu lassen, wie sie Lang in seinen Mabuse-Filmen fürs Kino kreiert hat. Es sollte ein Verbrecher sein, der die Tendenzen der Zeit ausnutzt und nur noch einen letzten Anstoß geben muß, damit die Macht der Zerstörung die Oberhand gewinnt.

Man muß sich den Film vorstellen als die langersehnte Chance zweier Cinephiler, in das zunächst sperrige und hermetisch verschlossen wirkende Universum Langs einzutauchen. Nicht Imitation oder nostalgischer Abklatsch war die Intention der beiden, auch keine „pastiche“ aus Lang -Zitaten und -Anspielungen (obgleich in einem Dialogsatz von „Rudi Klein-Rogge“ und „Bernhard Goetzke“ die Rede ist: ein augenzwinkernder Verweis auf die Antagonisten der ersten Mabuse-Verfilmung.) Dennoch versucht Chabrol, sich gewissen Erzählprinzipien Langs zu erschließen, vielleicht auch in der leisen Hoffnung, daß Lang-Kenner beim Besuch des Films das Gefühl haben, einen neuen Lang-Film zu sehen.

Sonntag, 5. November. Ein kalter Herbstmorgen am Lietzensee. Auf dem set herrscht noch keine hektische Betriebsamkeit und auch nach Chabrols Ankunft ist klar, daß sich nicht viel am gemächlichen Sonntagmorgentempo ändern wird. Die Familie Chabrols - neben ihm seine Ehefrau Aurora, die als Scriptgirl die „continuity“ der Dreharbeiten überwacht und zugleich bestimmt, wie lang der Film werden wird („Dieser take war drei Sekunden zu lang!“) und seine Stieftochter Cecile, die ihm als agile 2. Regieassistentin dient - kommen an, in dicken Steppmänteln gegen die Kälte gewappnet. Kameramann Jean Rabier komplettiert die Familie. Ebenso vierschrötig wie der Regisseur, verleiht ihm seine dunkelgrüne Jacke und die derbe Cordhose das Aussehen eines bretonischen Landwirts. Die Kameraassistentin hat mir Regisseur und Kameramann wie ein altes Ehepaar geschildert: nie zuvor habe sie ein solch wortloses Einverständnis erlebt und eine solch selbstverständliche Arbeitsteilung. Chabrol interessiert sich für den Bildausschnitt (die Kadrierung) und die Bewegungen der Kamera, Rabier widmet sich der Lichtführung.

Gedreht werden soll ein Schwenk über den Lietzensee: die Einstellung beginnt als Totale des Sees, in dessen Mitte ein Ruderboot zu sehen ist, dann schwenkt Chabrol hinüber zum Ufer, folgt kurz einem weiteren Ruderboot und löst sich dann von diesem, um eine Frauenleiche im See zu entdecken.

Die Boote treiben während der Probe ständig ab, sie müssen jedesmal aufs Neue zu ihrer Ausgangsposition zurückgerudert werden. Die Regieassistentin, die wirkt, als habe sie bei Dreharbeiten schon alles gesehen und erlebt, versteht den Unwillen des Teams nicht: „Daß die Leute keine Geduld mit dem Wasser haben!“ Zunächst wird mit einer Puppe anstelle der Wasserleiche geprobt. Schließlich ist es soweit: die unerschrockene Statistin (sie arbeitet für gewöhnlich hinter der Kamera, als Assistentin des Spezialeffektemagiers „Charlie Bum Bum“ Baumgartner) steigt ins bitterkalte Wasser. Die Szene ist nicht ganz ohne Tücken: die „Leiche“ muß wieder bleicher geschminkt werden und sie blinzelt wegen der Kälte mit den Augen. Dennoch genügen Chabrol nur wenige takes und die Tortur ist beendet.

Dr. Mabuse bestätigt, daß unprätentiöse Kolportageromane eher als kongeniale Filmvorlage taugen denn solche, die zuerst vom Kothurn der hohen Kunst heruntersteigen müssen. Die Figur des Mabuse wurde in den frühen 20er Jahren von dem Luxemburger Norbert Jacques erfunden, der sich nicht nur im Genre des Unterhaltungsromans tummelte, sondern für seine „seriösen“ Romane auch das Lob Schnitzlers und Thomas Manns erhielt. Die Publikumsresonanz auf die Figur des dämonischen Meisterverbrechers war unerwartet groß: als Vordruck in der 'Berliner Illustrirten Zeitung‘ und als Billigausgabe des Ullsteinverlags wurde er in einer schnellebigen Zeit zu einem keineswegs kurzlebigen Bestsellererfolg.

Der Romanautor und später auch Fritz Lang und vor allem die Werbeabteilung der UFA wurden nicht müde, den Erfolg des Werkes aus seinem Charakter als „Zeitbild“ zu erklären. Jacques selbst zu seinem Roman: „Dieser Dr. Mabuse ist die erste, allerdings erfundene, Persönlichkeit, die aus den Gedanken, Trieben, Wünschen und vor allem Ängsten dieser Zeit geboren wurde.“

Tatsächlich reflektierten seine dunklen Machenschaften wie ein Vexierspiegel den hektischen Totentanz und das soziale und politische Reizklima der Nachkriegszeit. Langs Filme entwarfen noch stärker ein Panorama der Inflationszeit, in der mit dem Verfall des Geldwertes der Verlust fast aller traditionellen Werte einherging. In dieser Welt regierten Extravaganz und Sensationslust, Vermögen wurden angehäuft und rasch wieder verloren, die Großindustrie triumphierte und brachte die alten sozialen Hierarchien ins Schwanken. Vielleicht mußte es in einer Zeit der Monopolisierung der Großindustrie auch einen Großverbrecher geben. Der Hasardeur Mabuse schlüpfte in eine Unzahl verschiedener Maskierungen, welche die verschiedensten Facetten dieser Epoche auffächerten. Dieser „Romantiker des Bösen“ (wie ihn sein Darsteller Rudolf Klein-Rogge nannte) besaß eine Faszination ohnegleichen, weil er in der chaotischen Welt der 20er Jahre gleichsam wie ein stabilisierendes und kontrollierendes Element wirkte: er zwang jeden unter seinen Willen zur Macht. Lang konzidierte, Mabuse sei ein Kind Nietzsches, transponiert in die Sphäre des Trivialmythos. Eine Analogie zu Hitler lehnte er für diese Figur jedoch strikt ab. Für Siegfried Kracauer indessen war sie ein willkommenes Indiz für die Dominanz des Tyrannenmotivs im deutschen Film jener Zeit, an Hand dessen er dem psychologischen Grundmuster des Volkes, seiner „präfaschistischen Kollektivdisposition“ nachspüren konnte.

Sonntag, 5. November, gegen Mittag. Der zweite Drehort dieses Tages ist ein Fabrikgelände am Westhafen.

Chabrol legt Wert darauf, nicht in jedem Fall einen Schauplatz vor Beginn der Dreharbeiten zu sehen, ihm genügen „Reparages“, Fotos von der Schauplatzsuche: sonst würde er zu früh zu viel darüber nachdenken. Zwar genügt ein kurzer Blick ins Drehbuch, um zu sehen, wie genau er vorbereitet ist - die Seiten sind voller Marginalien, voller Skizzen und Notizen. Doch vieles will er erst am Drehort selbst entscheiden. Vor den Proben erklärt er mir die Einstellung, die er gleich drehen wird: die Kamera wird von den Schornsteinen einer Fabrik auf einen Lastwagen herunterschwenken, der sich präzis in diesem Moment in Bewegung setzen soll, um den Blick freizugeben auf den Kommissar Hartmann (Jan Niklas) und seinen Assistenten (den Benoit Regent, der den undurchsichtigen Polizisten in Rivettes Viererbande spielt). Chabrol stellt plötzlich fest, daß sein Monitor ausgeschaltet ist, mit dem er jede Einstellung überprüft: „Donnez-moi mon image! Je veux mon image!“ Chabrol fiebert den Dreharbeiten entgegen, es ist nicht schwer zu erkennen, welche Lust ihm das Drehen bereitet.

Die Dreharbeiten sind jedoch kniffliger als erwartet. Jean Rabier muß sich ständig auf neue Lichtverhältnisse einstellen - heute morgen am Lietzensee begannen wir noch mit strahlendem Sonnenschein, nun ist es bewölkt. Diesmal genügen Chabrol auch seine üblichen zwei takes nicht, denn der Lastwagenfahrer glaubt, er müsse schon bei dem Ruf „Action“ losfahren und wartet nicht das Signal ab, das speziell für ihn gedacht ist. Chabrol ärgert und amüsiert die Situation gleichermaßen: „Quel idiot! Qu'il est bete!“ Der unbedarft lächelnde Statist merkt in seiner Lkw-Kabine nichts davon, ich fürchte, er wird auch den nächsten take wieder vermasseln. Irgendwie gelingt es doch, den Szenenablauf richtig zu koordinieren und Chabrol ist wieder bester Laune. Der Anblick des Mittagessens entlockt ihm sogar Entzückensschreie, die sich allmählich in die gutturalen Laute eines japanischen Kabukischauspielers verwandeln. In dem schalknackigen Benoit Regent hat Chabrol hierfür den idealen Partner gefunden: beide überbieten sich in der Imitation der fernöstlichen Wortgebärden und begleiten sie schließlich noch mit einer höchst komplexen Choreographie, die schallendes Gelächter bei dem schlangestehenden Team auslöst.

„Toutes les suicides - c'est tres allemand, n'est-ce pas?“ lautet Benoit Regents ironische Diagnose des psychologischen Grundmusters des deutschen Volkes einige Jahrzehnte nach Kracauer. Ganz dem Prinzip Fritz Langs folgend, geht auch Dr.M von einem dokumentarischen Ansatz aus, will ein Bild seiner Zeit sein. Ein entscheidender Ausgangspunkt war für den Berliner Bauermeister die Tatsache, daß Berlin die höchste Selbstmordrate der Welt hat. Dementsprechend wird auch Dr.M eine der höchsten Selbstmordraten der Filmgeschichte haben - allein die Eröffnungssequenz zelebriert drei besonders spektakuläre Freitode. In dem Film regiert nicht, wie bei Lang/Jacques der Geist der Zerstörung, sondern vielmehr der Geist der Selbstzerstörung. Die Krisenstimmung ist verinnerlicht, die Ahnung, daß die Menschheit sich selbst vernichten wird, hat sich im Privaten niedergeschlagen, in der individuellen Selbstvernichtung. Der von Jan Niklas gespielte Protagonist ist folgerichtig auch kein ungebrochener Held: seine Frau hat sich lange Zeit vor Beginn der Spielhandlung umgebracht, und er wirkt in der Großstadt so verloren wie ein Treibholz. Daß er dennoch ein Kämpfer ist, verbindet ihn mit Helden Fritz Langs. Sein Gegenspieler, der mysteriöse Doktor M., dessen Identität bis zum Schluß ungeklärt bleiben soll, hat zwar selbst alle Fäden in der Hand, hängt seinerseits jedoch auch selbst an einem Faden - durch das Handikap seines metallenen Herzens. Für Bauermeister entspricht das Verhältnis der beiden dem Märchen vom Hasen und dem Igel: Es ist die Geschichte von jemandem, der ständig im Zickzack läuft, um festzustellen, daß er jedesmal zu spät kommt: das Böse war immer schon vor ihm da.

Samstag, 11. November, später Vormittag. Es ist wieder ein klarer, heller Herbsttag. Heute wird in dem von Stirling als pastellfarbene Monströsität entworfenen Wissenschaftszentrum gedreht. Eine große Statistenszene steht auf dem Plan: fast zweihundert Menschen drängen sich vor den verschlossenen Türen eines Ferienklubs. „Wie vor einer Bank in West -Berlin“, feixt Claude Chabrol - dies ist das erste Wochenende, an dem die Grenzen offen sind. Gestern wurde in Kreuzberg gedreht, vor dem Hintergrund der Oberbaumbrücke, über die sich Tausende von einem Teil der Stadt in den anderen zwängten. Auf diese Weise wird in Dr.M ganz nebenbei ein wenig Berliner Zeitkolorit vom November 1989 eingefangen.

Höhepunkt der Szene ist der Selbstmord einer Frau, die unbedingt aus Berlin fliehen will und im Reisebüro zurückgewiesen wird. Einer vom Team skeptisch: „Na, diesen Selbstmord kann ich nun aber wirklich nicht verstehen!“ (Aber ich! Ich ersticke langsam in den Menschenmassen! d.S.)

Die Dreharbeiten zeigen einmal mehr, daß Chabrol mit der Kamera schneidet: die einzelnen Einstellungen fragmentieren das Geschehnis so sehr, daß es zu einem erschreckenden mechanischen Akt wird. Die Szenen werden sowohl auf englisch als auch auf deutsch gedreht. Die Darstellerin der Selbstmörderin ist bei den englischen takes sehr überzeugend, bei den deutschen takes wirkt ihr Dialog zu holprig. Für einen ihrer Kollegen gilt das Gegenteil: sein Urberliner Dialekt hört sich im Englischen furchtbar an. Dies sind die Verlustrechnungen, die man bei internationalen Co-Produktionen aufmachen muß.

Kameramann Jean Rabier war nach dem Sehen der ersten Muster ganz anderer Meinung: „On sens la choucrote“ („Man schmeckt das Sauerkraut“). Auch der Produzent Fran?ois Duplat ist beruhigt: Dr.M wird ein deutscher Film werden!

Und für Thomas Bauermeister funktioniert auch die Brücke Chabrol/Lang. Chabrol macht seinen Film, ohne dabei die Grundgesetze des Lang-Stils zu verletzen: die geradlinigen und raschen Bewegungen der Kamera, das Verhältnis des Schauspielers zum Raum und zum Bildausschnitt. Dazu gehört auch, daß Spektakuläres nicht unbedingt spektakulär gefilmt werden muß. Wenn ein Krankenwagen in ein Schaufenster rast, dann gibt es keine Zeitlupenaufnahme der zersplitternden Scheiben. Der Effekt entsteht aus der eiskalten Nüchternheit, mit der Chabrol die Geschehnisse addiert, sie Punkt für Punkt erzählt und ablaufen läßt wie eine gnadenlose Maschinerie - ebenso wie Fritz Lang in seinen Filmen die Atmosphäre des Schreckens entstehen ließ.

Chabrol hat einmal gesagt, das M sei ein Großbuchstabe im Werk Langs. In dieser Hinsicht ist das Kürzel Dr.M keineswegs eine Verlegenheitslösung angesichts des Streits um die Rechte an der Figur des Mabuse. Artur Brauner hat sie vor einigen Jahrzehnten erworben. An diesem Buchstaben lassen sich die zwei Pole in Langs Werk fixieren: der konkrete, sozialrealistische (in M - Eine Stadt sucht einen Mörder) und der abstrakte, visionäre (in den Mabuse -Filmen).

Für Bauermeister birgt Dr.M die Hoffnung, beide Pole miteinander zu vereinigen. Claude Chabrols Hoffnungen sind da viel bescheidener: „Ich möchte einfach nur einen Film machen, über den Fritz - wenn er ihn sehen könnte - nicht sagen müßte: 'Bullshit!'“