Dramatische Probleme, lauwarme Lösungen

Sozialdemokraten verabschiedeten Grundsatzprogramm / Sie wollen „männliche Gesellschaft überwinden“, ohne den Paragraphen 218 zu streichen / Ökologie weitgehend Aufgabe des Marktes / Militärblöcke sollen europäischer Friedensordnung weichen  ■  Aus Berlin Charlotte Wiedemann

Der gestrige Tag war schon wieder „historisch“, jedenfalls für Karin Junker vom SPD-Parteivorstand. Die SozialdemokratInnen verabschiedeten auf dem Berliner Parteitag ihr neues Grundsatzprogramm mit einer frauenpolitischen Passage, von der Karin Junker sagt: „Die SPD bewältigt damit einen Teil ihrer Vergangenheit, und sie wird attraktiv werden gerade für junge Frauen.“ Sexuelle Selbstbestimmung, Neubewertung und Neuverteilung von Erwerbsarbeit und Familienarbeit, so lauten Forderungen aus diesem „Berliner Programm“. Ein Satz sticht heraus: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muß die männliche überwinden.“

Diese Passagen markieren am deutlichsten das gewandelte Selbstverständnis der SPD im Vergleich zum nun abgelösten Godesberger Parteiprogramm von 1959. Doch wie schwer sich vor allem die männlichen Genossen mit ihrem neuen Fortschrittsbegriff tun, das demonstrierten sie gestern sogleich bei der Diskussion um den Abtreibungsparagraphen 218. Nach heftiger Debatte beschloß der Parteitag eine schwammige Kompromißformulierung, „die erforderlichen gesetzlichen Regelungen“ sollten „außerhalb des Strafrechts“ getroffen werden. Nicht einmal in ihrem Zukunftsentwurf für die nächsten drei Jahrzehnte konnte sich die SPD also dazu durchringen, in klaren Worten die Streichung des Paragraphen 218 zu fordern.

So hätte es zwar die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) gewollt, doch bei Verhandlungen mit Parteichef Vogel hinter den Kulissen ließ sich die ASF-Vorsitzende Wettig-Danielmeier schließlich auf die Kompromißformel ein. Der Parteivorsitzende war offenbar wieder einmal von der Angst getrieben, konservativen Attacken einen Anlaß zu bieten. Und selbst die Kompromißformel mußten die Frauenpolitikerinnen dann noch gegen Einsprüche von Lebensschützern wie dem NRW-Politiker Friedhelm Farthmann verteidigen. Farthmann: „Eine Lösung, die den Schutz des werdenden Lebens allein in die Disposition der Frau stellt, kann ich nicht akzeptieren.“

Zwei Tage lang hatten die 440 Delegierten zuvor über das Berliner Programm beraten, zu dem nach fünfjähriger Vorarbeit nun noch 2.658 Änderungsanträge vorlagen. Die wesentlichen Konflikte waren allerdings bereits im Vorfeld ausgeräumt worden. In weiten Teilen schreibt das neue Programm den in der Partei schon seit längerem erreichten Diskussionsstand fest: Bedeutung ökologischer Politik, Abrüstung bis zur „strukturellen Angriffsunfähigkeit“, Aufhebung des weltweiten Nord-Süd-Gefälles. Gegenüber den dramatisch beschriebenen Problemen bleiben allerdings die anvisierten Instrumente zu deren Bewältigung zurück.

Die ökologische Bedrohung soll im wesentlichen mit marktwirtschaftlichen Methoden bekämpft werden im Sinne jenes aus dem Godesberger Programm übernommenen Satzes: „Wettbewerb soweit wie nötig, Planung soweit wie nötig.“ Die Parteilinke konnte im wirtschaftspolitischen Teil noch einige Änderungen durchsetzen, zum Beispiel die Vergesellschaftung von Eigentum im äußersten Notfall. Beschlossen wurde ebenfalls die vom Parteichef befürwortete, aber heftig umstrittene gesetzliche Verankerung von Volksentscheid und Volksbegehren. Als europäische Zielvorstellung formulieren die Sozialdemokraten die „Vereinigten Staaten von Europa“, die Öffnung der EG für osteuropäische Länder und die „Ablösung“ der Militärblöcke durch eine europäische Friedensordnung. Für Ausländer hält die SPD auch künftig nur das kommunale Wahlrecht bereit; die Wochenarbeitszeit will sie auf 30 Stunden verkürzen.

Mit einer Resolution wandte sich der Parteitag gegen den Bau westdeutscher Atomkraftwerke in der DDR - am Ausgang wurden die GenossInnen aber per Flugblatt an anderes erinnert: wann sie nämlich nun ihren Ausstiegsbeschluß vom Nürnberger Parteitag einlösen.