„Wir haben einen Geborgenheitsfetisch aufgebaut“

■ Im Forschungsprojekt „Moderne Sozialismustheorie“ denken Wissenschaftler verschiedener Universitäten der DDR nicht erst seit dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft über alternative wirtschaftliche Konzepte zum administrativen Kommando-Sozialismus nach / Ein Gespräch mit Dr. Jünger von der Leipziger Universität

Dr. Jürgen Jünger lehrt und forscht an der Leipziger Karl -Marx-Universität. Der 38jährige war zeitweise Mitglied der SED, zweimal wurde er aus der Partei ausgeschlossen. 1977 hat man ihn „wegen revisionistischer und parteifeindlicher Auffassungen zur Diktatur des Proletariats und zur führenden Rolle der SED“ an die „Graswurzeln“ verbannt - „zur politischen und fachlichen Qualifizierung in die sozialistische Wirtschaftspraxis delegiert“, lautete die heimtückische Verfügung seinerzeit im Original. Immerhin wurde er damals nicht, wie andere, ins Gefängnis gesteckt.

1985, im zweiten Anlauf, durfte er sogar promovieren. In den nunmehr 15 Jahren seit seinem Diplomabschluß hat er etwa fünf Jahre lang unter normalen Bedingungen wissenschaftlich arbeiten können. Jürgen Jünger hat die Gesinnungsdiktatur der totalitären Partei- und Staatsbürokratie ungebrochen überstanden, auch jene im Wissenschaftsbetrieb der Leipziger Universität. Zur Zeit arbeitet er unter anderem an einer weiteren Promotion.

taz: Du arbeitest am Projekt „Moderne Sozialismustheorie“ mit, gegenwärtig offenbar das überzeugendste wissenschaftliche Konzept für eine Alternative zum administrativen Kommando-Sozialismus. Wie hast Du den Anschluß an diese Forschergruppe gefunden?

Jürgen Jünger: Das geht auf alte Freundschaften zurück. Wir haben ja nicht eben erst begonnen zu arbeiten, sondern hatten schon früher Kontakte untereinander. Daß dann Michael Brie, Dieter Segert und Rainer Land relativ zeitgleich einen Bereich an der Sektion Philosophie der Humboldt-Uni bekamen, machte es schließlich möglich, ein solches Projekt offiziell zu installieren. Vorher konnte man ja nur quasi illegal zusammenarbeiten. Der Dreierkreis der Projektleitung wurde später erweitert durch Hans-Peter Krüger, Wilfried Ettl und mich. Mittlerweile kooperieren wir mit ungefähr hundert Wissenschaftlern.

Viele Deiner Vorstellungen zu den ökonomischen Grundlagen einer modernen DDR finden sich in dem Diskussionspapier zum Programm einer sozialistischen Partei der DDR wieder, das Eure Gruppe dieser Tage veröffentlicht hat. In welche Richtung muß Deiner Meinung nach die bitter nötige Wirtschaftsreform gehen, die allenthalben gefordert wird?

Ich sehe grundsätzlich drei Richtungen, wobei mir allerdings die jeweiligen Prozesse im einzelnen nicht völlig klar sind. Erstens: Unsere Wirtschaft bewegt sich bislang nicht nach ökonomischen Interessen, sondern nach politischen Vorgaben. Quittung liegt vor. Wir müssen in dieser Wirtschaft zunächst einmal die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich wirtschaftliche Interessen herausbilden können. Das heißt: konsequente Reform der Eigentumsstrukturen durch Überführung des bisherigen Staatseigentums in hochdifferenzierte gesellschaftliche Eigentumsformen, bis hin zum individuellen Eigentum. Dabei spielen Fragen der Gewinne, der Entlohnung, der Interessenbeteiligung über Aktiengesellschaften eine Rolle...

...Aktiengesellschaften?

Ja, unbedingt. Wir sollten, denke ich, die unbegründete Angst vor der sogenannten Gefahr einer Reprivatisierung der Wirtschaft abschütteln, wie das ja auch für Ungarn schon diskutiert wurde. Die Reprivatisierung einer bereits vergesellschafteten Eigentumsstruktur wäre de facto nur unter der Voraussetzung einer erneuten ursprünglichen Akkumulation denkbar. Die ist aber nicht zu haben, es sei denn, wir verramschen unsere ganze Wirtschaft an den Westen.

Das zweite Riesenproblem der DDR: Wie kommt man über Interessen zu wirklichen Innovationen? Bis jetzt sind die Betriebe hierzulande außerordentlich innovationsfeindlich...

...Ist das nicht die ganze Gesellschaft?

Doch. Wir müssen in der Gesellschaft insgesamt zu solchen Wettbewerbsstrukturen finden, die nicht auf Kosten der Menschen gehen, aber Innovationen fördert.

Und drittens müssen wir unsere Wirtschaft an die materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung anbinden. Dazu taugt allerdings Marktwirtschaft allein als Stichwort nicht, weil es die gewaltigen Veränderungen auch marktwirtschaftlicher Regulation in modernen bürgerlichen Gesellschaften außen vor läßt. Sozialistische Planwirtschaft der Zukunft muß an den Errungenschaften moderner Marktwirtschaft anknüpfen und darf nicht auf den Trümmern einer zerstörten Marktwirtschaft errichtet werden. In der DDR wurde die Marktwirtschaft faktisch zerstört und an ihre Stelle die zentrale staatliche Leitung und Planung gesetzt, die eine komplexe Ökonomie allerdings weit weniger zu steuern vermag als der pure Markt. Deshalb ist zu fragen, was kann der Markt regulieren, und wo genau müssen planwirtschaftliche Konzepte angreifen, um soziale, ökonomische und ökologische Prozesse im Sinne vernünftigen Menschheitsfortschritts zu befördern. Das kann der Markt allein gewiß nicht leisten.

Was meinst Du, wenn Du in diesem Zusammenhang „Risikosituationen“ anstelle von „Geborgenheitskonzepten“ forderst?

In unserer Ökonomie wurden alle wirklichen Wettbewerbssituationen gründlich beseitigt und statt dessen ein Sicherheits- beziehungsweise Geborgenheitsfetisch aufgebaut, so daß jeder, egal, was er tut, immer damit rechnen kann, daß ihm letztlich nichts passiert. Ob das nun der Einzelne ist, oder ob es Institutionen sind. Und genau das hat im Laufe der Jahre ein Klima allgemeiner Apathie und Initiativlosigkeit erzeugt. Ich meine dagegen, daß eine Situation der relativen Unsicherheit, die ja in der Welt ohnehin existiert - gerade angesichts der globalen Probleme

-Ausgangspunkt der Bewegung und Aktivität von Menschen, Betrieben etc. werden müßte. Nötig sind Unsicherheitssituationen, aus denen man nur durch eigene Aktivität zu relativen Sicherheiten finden kann. Vorher versprochene Sicherheit ist das Grundübel.

Denkst Du dabei auch an eine Reduzierung der sozialer Absicherung?

Nein, um Gotteswillen! Ein wichtiger Begriff für eine Alternative zur modernen bürgerlichen Gesellschaft ist für mich der der solidarischen Gesellschaft beziehungsweise der solidarischen Gemeinschaft.

Im Sinne des Konzeptes von Lafontaine?

Auch wieder nicht. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Wettbewerbssituation, bei der gleichzeitig gesichert werden muß, daß keine Menschen auf der Strecke bleiben...

...hat das schon irgendwo geklappt?

Nein. Das ist unser großes Problem, aber auch unsere einmalige Chance. Die Herstellung solcher Wettbewerbsstrukturen muß einer der Grundprozesse der kommenden Wirtschaftsreform sein. Problematisch ist dabei, daß die bisherige Kombinatsstruktur insgesamt eine monopolistische Blockstruktur darstellt und daß innerhalb dieser tatsächlich kein Wettbewerb möglich ist. Dabei würde ich allerdings die Unterscheidung für wichtig halten zwischen solchen Kombinaten, die organisch gewachsen sind, und solchen, die bloß administrativ zusammengebaut wurden, um Herrn Mittag den Überblick zu erleichtern. Die Kombinatsstruktur darf nicht generell zerschlagen werden vernünftige, gewachsene Kooperationsbeziehungen müssen wir beibehalten und diese übrig gebliebenen Kombinate viel stärker als bisher in dem internationalen Wettbewerb aussetzen.

In diesen Tagen spricht man in beiden Deutschlands - und hüben wie drüben unter sehr verschiedenen Vorzeichen - von Konföderation, Föderation und Wiedervereinigung. Die Leipziger Montagsdemo kennt bald gar kein anderes Thema mehr. Ist dies nicht vielleicht auch als ein spezifisch deutscher Fall einer zunehmend (wieder) favorisierten Konvergenztheorie zu begreifen?

Der Begriff der Konvergenztheorie geht davon aus, daß die beiden großen Systeme unabhängig von politischen und eigentumsstrukturellen Voraussetzungen auf eine Aufhebung der Industriegesellschaft in der postindustriellen Gesellschaft zulaufen. Also auf eine unbedingt gemeinsame Zukunft, wenn sie der Revolution der Produktivkräfte folgen. Das scheint mir schon richtig.

Ich glaube aber, daß man heute nicht mehr auf die Konvergenztheorie zurückgehen muß, sondern daß man diese als zutreffend unterstellen und weiterdenken sollte. So, daß es Prozesse der globalen Vergesellschaftung gibt, daß sich Produktions-, Lebens- und Eigentumsformen für beide Systeme ergeben, die Lösungen der globalen Krisen ermöglichen. Aber daneben, und das ist wichtig, birgt moderne Gesellschaftsentwicklung auch immer einen dieser Tendenz zur globalen Vergesellschaftung völlig entgegengesetzten Trend zur Ausdifferenzierung bis hin zur Individualisierung dieser Lebens- und Produktionsweisen und der Eigentumsformen. Auf der einen Seite also der Prozeß der Aufhebung der bisherigen Zwei- oder Dreiteilung der Welt. Auf der anderen Seite deutet vieles auf eine bisher ungekannte Differenzierung hin. Für mich ist es also vorstellbar, und zwar sehr bald, daß die DDR der BRD weit ähnlicher sein werden als Rumänien oder Ungarn zum Beispiel.

Das sprengt natürlich alle tradierten Begriffe des Systems...

Ja, das ist aber auch die Chance, über machbare sozialistische Perspektiven nachzudenken.

Verkommt nicht der Begriff „sozialistische Perspektive“ selbst schon zur leeren Worthülse?

Nein! Nur eben wird „Sozialismus“ nichts mehr sein, was ein vorgefaßtes, festgefügtes Bild eines gesellschaftlichen Zustands beschreibt. Zurück zu dem, was Marx und Engels in der „Deutschen Ideologie“ sagten: Der Kommunismus ist nicht der ideale Zustand der Gesellschaft, sondern die wirkliche Bewegung. Befreiung von allen Zukunftsbildern!

Zweistaatlichkeit von DDR und BRD ist für viele ein wünschenswertes, für eine wer weiß wie große Zahl von Leuten mittlerweile ein nicht gewünschtes „Zukunftsbild“. Und die DDR kann auf absehbare Zeit kein besserer, nur ein konsequent anderer deutscher Staat sein. Welche Werte hat sie in Zukunft anzubieten, oder was rechtfertigt auf Dauer ihre Eigenstaatlichkeit?

Ich hoffe, daß unsere Demokratisierung über das Durchsetzen und Anwenden von Erfahrungen des bürgerlichen Pluralismus hinausgehen wird. Bürgerlicher Pluralismus ist zwar in der Lage, einen weitgehend freien Wettbewerb von Parteien zu sichern, aber er lebt auch in relativ starren Parteienstrukturen. In den Bundestagsdebatten zum Beispiel wird keine Politik erarbeitet, sondern da bekämpfen sich nur noch feste Fraktionsmeinungen.

Bisher herrschte in der DDR eine Politik, die den Menschen zum ausführenden Organ gefaßter Beschlüsse degradierte. Massenhafte Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen war nicht gefragt. Wohin muß sich die politische Kultur entwickeln, wenn Sozialismus wirklich eine demokratische Alternative darstellen soll?

Sozialistische Politik muß wegkommen von diesen Kämpfen innerhalb der starren Strukturen hin zu solchen, die einen wirklich permanenten Lernprozeß ermöglichen und in denen die politische Aktivität des Einzelnen nicht auf die Wahl beschränkt bleibt. Hierbei spielt die Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle. Und selbst wenn man notwendigerweise anerkennt, daß gerade die Entwicklung einer starken politischen Öffentlichkeit eine Errungenschaft der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist, gibt es doch drei wesentliche Fragen, die auch von bürgerlichen Demokratien noch weitgehend ungelöst sind. Erstens die Frage, wie man Meinungen von Experten, wissenschaftliche Konzepte, Auffassungen von Künstlern und Managern und so weiter an öffentliche Meinungsbildungsprozesse koppeln kann. Allein schon ein Problem der Sprache. Die zweite Frage ist, wie können öffentliche Meinungsbildungsprozesse so organisiert werden, daß am Ende alle einbezogen sind, und wie kann dabei gleichzeitig verhindert werden, daß der Kommunikationsaufwand explodiert und ein babylonisches Sprachgewirr entsteht, an dessen Ende schließlich überhaupt nichts mehr klärbar ist, weil alle durcheinander reden, wie das gegenwärtig im DDR-Dialog der Fall ist. Und drittens schließlich: wie müssen öffentliche Meinungsbildung und konkrete politische Entscheidungsprozesse gekoppelt werden? Das wird das letztlich Entscheidende sein. In diesen drei Fragen könnte zukünftiger Sozialismus etwas leisten.

Welche Erfahrungen hast Du mit der SED gemacht, in der Du ja immerhin jahrelang Mitglied warst?

Meine Erfahrungen sind gewiß nicht schlimmer als die vieler anderer in diesem Land. In aller Kürze: Von 1972 bis 1977 habe ich mit Freunden über den Stalinismus nachgedacht. Das war dann eine illegale Gruppierung, Fraktionsbildung innerhalb der Partei mit staatsfeindlichem Charakter. Das Genick brach uns schließlich ein offener Brief an Biermann, den eine linke Splittergruppe im Westen druckte. An dem Punkt beendete das MfS (Ministerium für Staatssicherheit, d. Red.) unsere Tätigkeit - Parteiausschlüsse für einige von uns, mich hat es auch getroffen. Das war zunächst auch das Ende der wissenschaftlichen Arbeit - „zur politischen und fachlichen Qualifizierung in die sozialistische Wirtschaftspraxis delegiert“. 1987 wurde ich erneut Kandidat der SED, 1988 dann zweiter Ausschluß im Gefolge von Fragen meinerseits, auf die die Parteiführung noch keine neuen Antworten beschlossen hatte. Prag 1968 und Afghanistan zum Beispiel.

Deine Rehabilitierung steht bevor. Wirst Du dieser Partei ein drittes Mal beitreten?

Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Aber ich weiß, was ich beim Rehabilitierungsverfahren sagen werde: „Die Partei besteht nicht nur aus Verbrechern, Karrieristen und folgsamen Kälbern. Es gibt viele kompetente, mutige und moralisch integre Sozialisten bei euch. Mehr und mehr stehen aber genau diese Leute außerhalb der Partei, und sie haben ein Recht auf eine politische Heimat in einer modernen sozialistischen Partei, jenseits der gegenwärtigen SED, jenseits der Verkommenheit dieser Partei zu einer Massensekte, die nur noch feudale Machtstrukturen gestützt hat. In einer neuen, einer modernen sozialistischen Partei möchte auch ich für eine Identität der DDR mit sozialistischer Perspektive arbeiten, und in einer solchen Partei darf für einige von Euch kein Platz mehr sein.“

Interview: Josh Luther/Votum.