Heiliges Kanonenrohr

Der Kunstschnee im Zwielicht / Skirennläufer und -läuferinnen drohen nach schweren Stürzen mit Boykott  ■  PRESS-SCHLAG

Der Kunstschnee aus Schneekanonen rettet das Weltcupprogramm - doch die Stars des „weißen Zirkus'“ drohen mit Boykott. Italiens Pistenheros, Doppelolympiasieger Alberto Tomba (22), kündigte an: „Ich werde mir die Piste künftig vor einem Rennen genau anschauen. Ist sie nicht so, wie ich mir das vorstelle, dann werde ich nicht starten.“ Auch die 21jährige Jugoslawin Mateja Svet, die bei Weltmeisterschaften und Olympischen Winterspielen schon fünf Medaillen gewann, geht gegen Rennen, die fernsehgerecht und werbewirksam um jeden Preis gestartet werden sollen, auf die Barrikaden: „Den Veranstaltern geht es nicht um die Gesundheit der Rennläufer. Ich werde künftig in keinem Riesenslalom mehr starten, wenn er zu gefährlich gesteckt ist.“

Hintergrund der Boykott-Drohungen sind die sich zu Beginn dieser Saison häufenden Stürze auf Kunstschnee mit fatalen Verletzungsfolgen. Der aus Wasser und Luft bei Minustemperaturen in die braune oder grüne Landschaft geblasene Kunstschnee hat den zur einträglichen Show aufgeblähten alpinen Weltcupzirkus schon öfters vor einem Wetterfiasko gerettet. Er ermöglichte es dem Internationalen Skiverband und den im Rücken der Funktionäre agierenden Managern der Skiindustrie und des gesamten Wintersportmarktes, den Start der Skirennen sogar von der ersten Dezemberwoche mit dem traditionellen Kriterium des ersten Schnees im 1.800 Meter hoch gelegenen Val d'Isere auf die letzte Novemberwoche praktisch um zwei Wochen in andere Orte vorzuziehen.

Der Sinn: Die Masse der Skiläufer soll frühzeitig auf Skikäufe eingestimmt werden, selbst wenn partout keine Naturflocke vom Himmel tanzen will. Auch die Olympischen Winterspiele 1988 und Weltmeisterschaft 1989 in Vail fanden vorwiegend auf Kunstschnee statt. Mittlerweile geht die Zahl der Schneekanonen in aller Welt in die Hunderttausende.

Doch der Kunstschnee ist ein zweischneidiges Schwert. In der Struktur dem Altschnee gleichend, ist der Kunstschnee bei einem Sturz „härter als das Gletschereis“, hat der deutsche Skirennläufer Markus Wasmeier herausgefunden. Tückisch reagiert der Kunstschnee beim Kanteneinsatz. Ist der Kanteneinsatz (aus Angst vor dem Rutschen) zu aggressiv, verschneidet der Ski wie bei dem Sturz von Marc Girardelli. Wird der Ski in der Kurve zu flach geführt, rutscht der Läufer chancenlos aus der Idealspur, wie dies die geschockten Fernsehzuschauer beim Sturz des Italieners Giorgio Piantanida bei der Gröden-Abfahrt sahen oder beim Sturz von Alberto Tomba beim Super-Riesenslalom in Val d'Isere. Fast alle Stürze haben fatale Folgen: Knochenbrüche, Sehnen- und Bänderrisse häufen sich erschreckend.

Doch es liegt nicht allein am seifigen Kunstschnee. Da die Kunstschneepisten wegen der Wasserrohrleitungen fast alle in der Fallinie vom Berg herabführen, sind die Kurssetzer bei Rennen gezwungen, sich an dieses schmale weiße Band zu halten. „Man kommt kaum aus der Fallinie. Besonders schlimm ist das in engen Passagen“, weiß der deutsche Abfahrtstrainer Martin Oßwald, der in Val d'Isere einen der schnellsten Super-Riesenslaloms der Geschichte setzte. Tomba klagt mit Recht: „Das sind keine Super-G's, das sind Abfahrten.“ Die Geschwindigkeiten sind zu hoch, vor allem für Technik-Läufer, die kein Abfahrtstraining absolvieren. Ähnliches gilt für Riesenslaloms, die auf schmalen Pisten zu schnell gesetzt werden.

Hier stoßen Tomba und Mateja Svet ins gleiche Horn. Und wenn die Abfahrtsläufer gar bei Weltcupabfahrten das Risiko meiden, sichere Umwege suchen wie Weltmeister Hansjörg Tauscher in Gröden, oder gar wie Olympiasieger und Gröden -Sieger Pirmin Zurbriggen sagen, sie hätten im Zielschuß gebremst, weil es zu schnell wurde, dann wird es Zeit, für den Internationalen Skiverband und seinen eigens seit dieser Saison amtierenden Sicherheitsbeauftragten, Sepp Messner, zu handeln. Oder die Rennfahrer schließen sich doch noch zu der oft schon diskutierten Fahrer-Gewerkschaft zusammen.

Herbert Bögel (dpa)