Weihnachten - ein Seilakt

Der Catchring als letzter Ort, Weihnachten nicht bloß zu feiern, sondern zu erfahren  ■  Von Barl Krachler

Christfest ist, wie das Gesetz des Kalenders befahl. Aber: Ist Christfest? Irren wir uns nicht vielleicht? Erliegen bloß der lockenden Täuschung einer lieb, aber leer gewordenen Gewohnheit? Was außer der launischen Ordnung unserer Terminkalender hindert uns, den morgigen Tag Eier suchend zu verbringen oder gemeinsam Domtreppen zu fegen? Wer garantiert uns in diesen Zeiten des Zweifels noch Wahrheit, gar einen unbeweglichen Feiertag Weihnachten?

Vielleicht sind es die singenden Kinder. „Morgen kommt der Weihnachtsmann,“ wissen sie mit der Bestimmtheit, die der Jugend eigen und ihr vornehmstes Recht ist. Aber ist denn selbst den Kleinsten das Christkind heute noch mehr als ein Vorwand, eine elterngerechte Metapher findiger Racker, die Hei-Land sagen und He-Man meinen? Nein, Weihnachten läßt sich nicht zwingen, beugt sich nicht dem Diktat unseres Abreißkalenders.

Der große Bezwinger des Mittelalters, Leonardo da Vinci, muß das geahnt haben, als er vor fast fünfhundert Jahren in sein Haus einkehrte und sein Blick auf einer Zeile seines Notizbuchs haften blieb: „Wenn Du allein sein wirst, wirst Du ganz Dir gehören.“ Da Vinci las - und tat den er

sten Skizzenstrich zu „einem Symbol für die brennende Sehnsucht der Menschen nach Erlösung“, wie sein Freund Luca Pacioli später das „Abendmahl“ nennen sollte, dieses Bildnis eines Einsamen inmitten seiner Nächsten.

Denn beides liegt nah beieinander: Geburt und Tod, Weihnacht und letztes Abendmahl, die Häscher des Herodes und die der Hohen Priester. So nah, wie Verzweiflung und Hoffnung in den beiden Sätzen dieser letzten Vesper: „Wahrlich, ich sage euch, einer unter euch wird mich verraten.“ Und: „Nehmet, esset, das ist mein Leib.“

Es gibt unzählige Vorläufer, Plagiate, Kopien, Variationen des Abendmahls in der Malerei. Eine der tiefsten, das Thema an seinem Herzen fassend und durch die Zeit in unsere Geschicke verfolgend, stammt von den beiden Künstlern Thomas Gefken und Jürgen Hänel (s.o.). Auch hier ein gestürzter Welten-Meister in der Runde seiner Jünger in dunkler Ahnung zwischen lockendem Vergnügen und lauerndem Verrat. Ein neuer, weltlicher Gott und Herr der Ringe.

Aber ist uns heute nicht der Ring der Ringer ein Gleichnis für beides: Ort der Gefahr und Schutzraum, Fluchtmöglichkeit im Moment der letzten Ausweglosigkeit, an dem die Lebens -Kampfzeit angehalten wird, sobald wir ihn berühren und Ort der (Schicksals-)Schläge? Sind nicht auch dem Ringer die Freunde nie

so nah und fern zugleich, wie im Moment, da er in den Ring steigt? Zehntausende blicken auf ihn und doch ist niemand einsamer als er. Denn was ist dem Catcher das Ringseil? Rettung und abgeschnittener Fluchtweg zugleich. Freund und Feind in einem. Sind uns nicht alle unsere Nächsten Seile, bei denen wir nicht wirklich wissen können: Stützen oder stürzen sie uns?

Und so ist der Catchring vielleicht der letzte Platz eines empfundenen, und nicht bloß gefeierten Weihnachtens, eines, das schon um Karfreitag weiß. Wenn wir auch heute die heimlichen Zeitfäden nur ahnen können, die sich zwischen da Vincis Original

und seinen kongenialen Nachfolgern unter uns spinnen - da Vinci ist bei der Betrachtung eines versteinerten Fossils beigefallen, und er hat es aufgeschrieben, als hätte er unsere Welt geahnt und die Nachfolge seines inzwischen verblichenen Abendmahls in ihr: „O Zeit, du Zerstörerin aller Dinge. Wieviele Könige und Völker hast Du vernichtet,. und wie oft haben sich Staaten und allerlei Verhältnisse geändert, seitdem die wunderbare Form dieses Fisches hier zugrunde ging? Jetzt aber, nachdem die Zeit ihn zerstört hat, ist er zur Stütze und einem Gerüst des Berges über ihm geworden.“ In diesem Sinne: Fröhliche Ostern!