Bremen, anno 1989: Ein Jahr der Umzüge

■ Von Blumenkübeln, Bunkern, Übersiedlern, so mancher Personalie und Ritterhude, Cloppenburg und Djakarta

Stille Nacht, heilige Nacht. Und draußen rieselt, wie alle Jahre wieder, das Regenwasser an den ungeputzten Fensterscheiben herunter. Die Stimmung, noch leicht hektisch, hat schon diesen gefährlichen Unterton von heraufdräuender Feierlichkeit. Unüberfühlbar mischt sich Wehmut mit hinein: Neun Mal werden wir noch wach, heißa, dann ist Neujahrstag.

Grund zur Wehmut gibt es allemal. Denn in dem Jahr, das wir hinter uns gebracht haben, hat ein Höhepunkt den nächsten gejagt: Rein lokalpolit-journalistisch betrachtet, versteht sich. Geradezu sinnbildhaft für das, was sich dieses Jahr in Bremen abspielte, mag da der taz-Aufmacher vom 9.9.1989 stehen: „Behörde läßt Blumenkübel abräumen“, stand da zu lesen.

Die Blumenkübel konnten sich aber nur einen einzigen Tag an der Spitze der taz-Hitliste halten. Das Top-Thema des Jahres war sicherlich ein anderes. 1989, das war das Jahr der Umzüge: Als erstes zu nennen, die gut 7.000 NeubremerInnen, die aus allen Herren Ländern, vor allem aber aus dem des Herrn Honecker nach Bremen kamen und dort auf einen ob der Situation durchaus miesepetrig gestimmten Sozialsenator trafen. Zur abschreckenden Mahnung ließ der schon mal Zelte auf Wiesen fotographieren, die er gleich danach klammheimlich wieder abbauen ließ. Und als das mit den Zelten auch nicht weiterhalf, drohte der Sozialsenator im Interview via DDR-Fernsehen mit der Alternative „Aufnahmestopp oder ab in die Bunker“. Immerhin: 3.000 Übergangs-Wohn

heimsplätze hat der Krisenstab der Sozialbehörde bis heute auch ohne Bunker auf die Beine gestellt. Beweis für eine inzwischen routinierte Kreativität, die sich im kommenden Jahr wird vervollkommnen dürfen.

Auch im öffentlichen Leben gab es Umzüge querbeet durch die Parteien und sonstigen Organisationen. Manche der Gegangenen sind inzwischen fast vergessen, völlig zu unrecht versteht sich. Oder können Sie noch etwas mit dem Namen Reinhard Metz anfangen? Der war CDU-Fraktionsvorsitzender und stürzte ausgerechnet über den Präsidenten Nicaraguas, Daniel Ortega. Der war im Mai in Bremen zu Besuch

und Metz ließ sich zwar zum Essen laden, vermied aber jedes Wort der Kritik. Was die Junge Union ihm derart übel nahm, daß auch die anderen CDU-Mitglieder nicht länger vor der Wahrheit die Augen verschließen mochten. Metz durfte zurücktreten und wurde aus lauter Respekt vor seinen politischen Fähigkeiten zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Briefmarkensammeln und Golfspielen will halt finanziert sein. Der neue Hauptfeldwebel Peter Kudella hat es zwar geschafft, binnen kurzem eine Kampagne „Drogen-und Verbrechensstopp“ zu initiieren und ist, weil ihm sonst nichts einfällt, zur Karikatur seiner selbst

geworden. Ein tolles Tempo.

Noch rekordverdächtiger ist allerdings der neue DGB-Chef Siegfried Schmidt. Der IG-Metaller aus Braunschweig, der aussieht wie der jüngere Bruder seines Vorgängers Hans Möller wurde Ende September mit zwei Stimmen Mehrheit einer GEW-Kollegin vorgezogen. Und wie sich das für einen richtigen Gewerkschafter gehört, schaffte Schmidt im Rekordtempo den Weg in den Angestelltenkammervorstand.

Umzug auch bei den Grünen: Lang zierte er sich zwar, dann sprang er doch. Im Frühjahr ließ sich der Bürgerschaftsabgeordnete Ralf Fücks zum Sprecher der

Bundespartei wählen. Die KollegInnen sahen es zum Großteil mit lachenden Augen und wollten nun ganz ohne heimlichen Chef alles viel besser und kollegialer lösen, ohne Konkurenzkampf und so. Ergebnis nach einem dreiviertel Jahr ohne Fücks: Nie war der Konkurenzkampf größer und die Stimmung mieser.

Und auch bei der SPD wurde wieder mal fleißig Stühlerücken und -sägen gespielt. Das Jahr hörte da auf, wie es angefangen hatte. Nur, daß dieses Mal die Neue Sabine Uhl statt Peter Sakuth heißt und diesmal Thomas Franke statt Bernd Meyer geht. Auch die vor knapper Jahresfrist neugekürte Vorsitzende der SPD, Ilse Janz, hat ein wesentliches Ziel ihrer parteipolitischen Arbeit erreicht, darf im kommenden Herbst voraussichtlich in den Bundestag einziehen und ihr Vorsitzendinnenamt wieder abgeben. Herzlichen Glückwunsch.

Einen solchen hat auch Hans-Helmut Euler verdient. Er schied als Chef von Wedemeiers Senatskanzlei aus, und wurde Chef der privatisierten Bremer Medienpolitik, sprich Geschäftsführer des Bremer Instituts für Film und Fernsehen. Von da leitete er geschickt den Millionenpoker mit den Privaten. Erfolg: Die Bremer können jetzt den SAT-1 Serienmatsch begucken, und Herr Euler hat einen Millionenetat für das Filminstitut. Jetzt warten wir nur noch auf das erste Produkt des Hauses.

Und noch welche sind umgezogen und zwar heftig: Die in der Gewerkschaft organisierten Einzelhandelsbeschäftigten. Mit Streiks sicherten sie den Laden

schluß und erreichten so den „besten Tarifvertrag„(HBV). Drei Monate später waren alle Betriebsräte umgekippt und die Innenstadtläden donnerstags bis 20.30 voller Menschen.

Der Preis für den umtriebigsten Bremer des Jahres steht ohne Zweifel Hollerland-Schützer Gerold Janssen zu. In einem wochenlangen Spaziermarathon mit wahren Genossenheerscharen schaffte er, was zuvoraussichtslos erschien: Einen Kompromiß für das Hollerland. Genossen müssen halt Jahrzehnte bearbeitet werden, ehe sie begreifen.

Das auch als Lehre für die VerfechterInnen eines neuen Weserkraftwerkes. Die konnten dieses Jahr ein einzigartiges Eiertänzchen beobachten, das SPD-Senat, SPD-Fraktion, SPD -Partei und SPD-Stadtwerke auf's politische Parkett legten. Ergebnis einer mehrmonatigen Debatte: Es wird erst einmal geprüft.

Vor dem Bremer Theater steht seit diesem Jahr ein großes schwarzes Motorrad, dessen Besitzer, Schauspielchef Fricsay, zur Freude seiner SchauspielerInnen und zum steigenden Mißfallen der ZuschauerInnen Familie spielt.

Und dann war da noch der Freimarkt, das Musikfest, das russische Gold, das Sechstagerennen, und vieles, vieles Bedeutende mehr, das wir an dieser Stelle aus Platzgründen leider ebensowenig würdigen können, wie das unglaublich gestiegene Bremer Image in Ritterhude, Cloppenburg und Djakarta. Und trotz alledem: Draußen weint immer noch der Himmel.

Holger Bruns-Kösters