Multikulturelles Weihnachten im Lloyd-Hotel

■ Kurdische Libanesen, Roma, DDR-Deutsche, Polen-Deutsche, Sowjet-Deutsche unter einem Notunterkunftsdach

Noch fünf Minuten zuvor hatte Selma erzählt, wie gern sie und ihre drei Geschwister und die Mutter die Mahlzeiten mit auf das kleine Zimmer nehmen würden. Oben hinter die Tür mit der Aufschrift A 15, im zweiten Stock des Lloyd-Hotels. „Wir mögen das nicht, mit den anderen im Aufenthaltsraum zu essen“, gestand die zehnjährige Libanesin. Ob es die Sehnsucht nach der Beschaulichkeit geordneter Familienverhältnisse ist, Selma konnte es nicht sagen. Gestern beim Mittagessen war es plötzlich mit dieser kleinen Freiheit vorbei. Höflich, aber bestimmt verwehrten Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt den Essensschmuggel aus dem Aufent

haltsraum. „Sonst haben wir nächste Woche kein Porzellan mehr“, hieß es zur Begründung.

Nach vorweihnachtlicher Stimmung fahndet der Gast in den Räumen des ehemaligen Lloyd-Hotels zwischen Hauptbahnhof und Stadthalle vergeblich. Die Notunterkunft, seit vergangenem Freitag Domizil von 140 AsylbewerberInnen und ÜbersiedlerInnen, ist eine große Baustelle. Zwischen den kahlen Fluren, die übersät sind mit unverhüllten Dübel -einschlägen, hinter ausgefransten Tapeten und stockfleckigen Teppichen basteln BewohnerInnen aus mehr als einem halben Dutzend verschiedener Nationen

und MitarbeiterInnen der Arbeiterwohlfahrt an einer Wohnatmosphäre, die ein bißchen Tristesse aus dem ohnehin schlechten Leben vertreiben soll.

Doch die Chancen stehen nicht gut. „Wahnsinnig chaotisch“ sei alles, sagt Volkmar Krüger, AWO-Mitarbeiter. „Wir sind total am Schwimmen, weil alles aus dem Boden gestampft werden muß“. Irgendwo zwischen Reinigungskraft, Hotelier, Verwaltungsmensch und Sozialarbeiter siedelt sein Kollege Bernd Schäfer seine momentane Tätigkeit im Lloyd-Hotel an. Mädchen für alles werden gebraucht. Multitalente, die mit der einen Hand Behördengänge samt Dolmetscher organisieren und mit der anderen das verstopfte Klo reinigen. An ein gemeinsames Weihnachtsfest hat unter diesen Bedingungen niemand so richtig gedacht. „Für weihnachtliche Gefühle ist vielleicht Sylvester Platz“ kommentiert Bernd Schäfer die Lage. Zumindest aber ein Tannenbaum soll in den Aufenthaltsraum.

Selma führt uns bereitwillig ins Reich von A 15. Betten über Betten, wie in allen übrigen „Hotelzimmern“. Ein wenig gegängelt kommen sie sich schon vor in der neuen Unterkunft, erzählt Selmas ältere Schwester Natja. Während sie sich fortwährend das Kopftuch über Stirn und Haupt zurecht

zieht, sprudeln die Vorschläge aus ihr raus. Einen Herd hätte sie gerne, noch nicht einmal die Milch fürs Baby könne man warm machen. Im ganzen Haus gibt es dafür keine Gelegenheit. Und das Geld fürs Essen solle man ihnen auszahlen, statt mittags wie

abends aus der AWO-Großküche die gute deutsche Kost an Polendeutsche, jugoslawische Roma und kurdische Libanesen auszugeben. Sie würde gern mal kochen, arabisch, so wie es die Familie gewohnt ist, in den eigenen vier Wänden.

Doch davor steht die neue bremische Sozialhilfepolitik. Erhöhung der Sachleistungen, Reduzierung der Barauszahlungen, diese Anpassung an andere Bundesländer bedeutet für die BewohnerInnen des Lloyd-Hotels: 40 Prozent ihres Sozialhilfesatzes werden für Unterkunft und Vollverpflegung zurückgehalten. Ob man dort ißt oder nicht, spielt keine Rolle. Und ob es schmeckt, schon gar keine. Die Kinder von Newal haben seit drei Tagen kaum etwas gegessen. Vor einem Monat sind sie aus dem zerbombten Beirut gekommmen und die Umstellung verlangt noch ihren Tribut. Auch gestern geht das ausgegebene Essen en masse zurück. Kartoffeln und Seelachsfilet, dem fünfjährigen Muhamed steckt plötzlich eine Gräte im Hals, er ahnte nicht, daß sich so heimtückische Dinge im Essen verbergen können.

Weihnachten werden die meisten im Lloyd-Hotel nicht feiern, auch Neujahr nicht. Aber Wünsche haben sie. Keine großen und ganz verschämt vorgebracht. Die Roma-Familie Misini aus dem jugoslawischen Dörfchen Prizeren, die mit ihren sieben Kindern in einem Zimmer untergebracht ist, träumt von Kleidern für die Kleinen. Die dreiundzwanzigjährige Newal von Babykost und Pampers und alle von einem kleinen Elektro -Campingkocher, auf dem sie Milch und Tee heiß machen können. Ach ja, Selma. Der gute Geist vom Lloyd-Hotel möchte einmal zum Essen eingeladen werden. Zu Mc Donalds. Ihr Wunsch war uns ein Vergnügen.

Andreas Hoetzel