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ZEIT ZUM SCHMUSEN, ZEIT ZUM KIEFERN

■ Eine Geschichte vom Kreuzberger Wirtschaftswunder durch Instandkapitalisierung

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Er wird alleine in den Alleen wandeln und lange, lange Briefe schreiben...Rilke jun.

Damals war man noch eine Familie. Am Samstag wurde immer gearbeitet, deshalb kaufte A. schon immer am Freitag ein, für das samstägliche Sippenfrühstück: Pepperoni, Schafskäse, Gouda, Knoblauchwurst und Riesenteller von Brot, das beim Rösten halb verbrannte. Alles bis auf Pepperoni und Brot bei Reichelt. In der Hinsicht war A., geborener Berliner, penibel, auch für Feten wurde nie bei Aldi gekauft. Später war's dann eben teurer als gedacht, „was man braucht“ hatte die Bedeutung von Naturgesetzen. Zu dieser Zeit konnte man, wenn man auf dem freien Wohnungsmarkt umschaute, von Einraumfreivögelfabriketagen über zugige Parterreschachteln bis zur Psychologen-WG mit Kinderkrabbelraum und Käsesortenspeiseplan alles und nichts finden. Also waren die einen zufrieden, für den vorläufigen Unterschlupf Gegenleistungen zu erbringen; Keller aufgraben, Dach abtragen, Schutt wegräumen und den Erzählungen der Selbsthelfer und zukünftigen Besitzer lauschen. Die anderen erbrachten ihre Gegenleistung in Bargeld auf die Gesellschafterkonten. Dafür wiederum gab es dann Subventionen.

H. kochte ständig stundenlang Kaffee und führte die übrige Zeit die Freunde G. und K. samt Baby im Haus herum; A. hing auf der Leiter und haute Balken heraus, die nicht angesagt waren, aber dem Schubkarrenfahrer S. in den Nacken krachten; R. organisierte, indem er den andern lange Reden beim Zementmischen hielt. Bevorzugt handelten die Reden vom effektiven Arbeitseinsatz. Wenn das alles getan war, holte einer Döner für alle, mit und ohne, dann saßen alle kaffeesaufend und knoblauchdampfend vereint zusammen und wichtelten darüber, was noch zu tun sei jetzt und in Ewigkeit und wer was wann zu erledigen hätte. Und wie schön es werden würde, im Kiez, im legal gekauften Eigenheim, doch mit der Instandsetzungs-Finanzspritze des Senats, die bald hinten und vorn nicht mehr reichen sollte. Und wenn die goldene Sonne unterging über der Mauer, kam so ein richtig Kreuzberger Heimatgefühl auf.

Sechs Jahre nach der Hausbesetzerblüte, 1986, nahm also ein Clan, ursprünglich dem westlichen Deutschland zugehörig (Wessiland, wie man selbstironisch scherzte), sein Recht auf Heimat wahr. Aufgewacht in den Fünfzigern, geprägt in den Siebzigern, hatte man, unreif früh gealtert, in den Achtzigern den Zenit der Kapazitäten bereits weit überschritten und suchte nach einem ruhigen Plätzchen in der Großstadt, das müde Haupt niederzulegen. In den großen, billigen Altbauwohnungen wußte man nicht wohin mit dem inzwischen durch geschickte Berufswahl erworbenen monatlich wachsenden Kapital, Steuern drückten schwer, Hobbyanalyse der Neurosen von Ex-Freundinnen und das Schnitzen von Eckbänken konnten auf die Dauer nicht befriedigen. Der Beruf nahm schon weiten Raum des Privatlebens ein; Arbeitsplatte, Werkbank und Computerzubehör blockierten wenigstens einen Raum, der pseudogeheiratete Ausländer aus dem Nachbarschaftsladen einen weiteren. Dennoch blieb eine gewisse Leere, die vielleicht durch politische oder kulturelle Interessen hätte gefüllt werden können; allein, Essen ging man schon so gut wie jeden Tag und den Tagesspiegel las man auch.

Also suchte man mit befreundeten Architekten ein Wochenendhaus, ein Haus für arbeitslose Wochenenden. Es wurde gefunden, gekauft und unter Gesellschaftervertrag genommen, und, weil man gern teuer sparte, sich für bezuschußte Ökologiebaumaßnahmen entschieden. Lieber gleich zwei Tetrapack Milch im Kühlschrank als eine saure vom letzten Einkauf. Denn: Man frißt gut am Bezirk, liebt Multinaturalität und Flair, fährt im Winter Ski und im Sommer BMW.

Schöner wohnen, teurer sanieren, evangelisch leben. Als die Kredite knapp, Umschuldungen nötig wurden, was eben dem Sinn für großzügige Investitionen, Großhandel und Palaver entsprach, als der Einzugstermin von Saison zu Saison in die Ferne rückte, differenzierten sich die Umgangsformen. Man schloß sich wahlweise intimer oder aus, mißbrauchte gemütliche Beisammensein bei der Kaffeetafel zur Hebung der Arbeitsmoral und launigen Selbstdarstellungen. H. kochte immer noch ausdauernd Kaffee und führte neue Freunde herum, A. ließ Polen und wer es sonst nötig hatte für sich arbeiten, und R. besichtigte das Haus, um sich über den Stand der Instandsetzung zu informieren.

Im Sommer wurde im Hof gegrillt. H., R., A. und U. waren heißhungrig, als hätten sie lange nichts abgekriegt, hauten die Würste rein, obwohl die Kartoffeln in der Alufolie noch nicht soweit waren, nahmen sich zum dritten Mal, wenn Höfliche rhetorisch in die Runde fragten. Noch bevor der Senf aus dem fünften Stock zum Einsatz kam, war die Schlacht geschlagen, eine Wurst war zu wenig, außerdem hatte sich M., der Hausfeind, zwei genommen und hielt trotzdem nicht sein Maul.

Mit zunehmendem Alkohol lösten sich Zunge und Herzen; im Schein von Baulampe und Kerzen wurden Wohnungen auf- und umverteilt, rien ne va plus, das Kämmerchen ist unter Beschlag, die Sitzgruppe schon installiert. Am nächsten Tag stand der Keller unter Scheiße, ein Abflußrohr war aufgeplatzt. Es muß zu dieser Zeit gewesen sein, als die Charaktermasken brachen, die Sitzgruppe wurde zur fixen Idee.

Im Laufe der Zeit bekamen einige, die sich einen festen Zeitplan gemacht hatten, aushäusige Weinkrämpfe. Wer es sich leisten konnte, gab dem Druck ein Ventil, schuldete die moralische Verantwortung beliebig um und rüstete finanziell auf. Eltern schufen ihren Kindern eine Existenz, die gutverdienenden Kinder legten noch eine drauf. Immer öfter kam der Wüstenrottag. Immer relevanter die Erstschlagswaffe Kapital in einer formal gleichgestellten Gesellschaft mit demokratischen Grundsätzen. H., der Hobbypsychologe, hat kein „Helfersyndrom“, die weniger gut verdienenden mitzuziehen. Wir leben voll in unserer Leistungsgesellschaft. Wenn man arbeiten geht, will man wenigstens was davon haben. Wer nichts davon hat, wird überstimmt oder vergessen, zur Versammlung einzuladen, was aufs gleiche rauskommt, denn Ich hatte mir von ihm anderes erwartet, da er kein Kapital hatte...

Jeder will eine eigene Dachterrasse, es gibt aber nur zwei. Wer schon eine hat, unterstützt den andern solidarisch. F. kann ohne Dachterrasse nicht leben. H. kann ihn verstehen. U. will einen Kellerraum als Werkstatt, der geplante Gemeinschaftsraum verschwindet schamhaft irgendwann in der Versenkung. Alle wollen selbstbestimmt wohnen und arbeiten, für ihre Hobbies brauchen die Selbsthelfer jede Menge Platz. Auf hundert Quadratmeter Einzelkampf gegen Wohnungsnot und Ausländerfeindlichkeit, ich will jetzt erst mal alleine wohnen. Lebensraum ist knapp geworden. Am 1. Mai ruft man den Randalierern zu: Zerstört nicht unseren Lebensraum! Da sind die Besitzverhältnisse wieder klar, nachdem es 1981 unter der Überschrift Rückeroberung von Zeit und Lebensräumen geheißen hatte: „Unser eigentliches Ziel kann nur die Enteignung der Lebensräume (zum Beispiel: Häuser) heißen. Enteignung nicht zugunsten eines sich irgendwie schimpfenden Staatsapparats, sondern Enteignung für und durch die direkten Nutzer.“ Aber auch: „Ein Kampf um Selbstbestimmung heißt nicht nur, die Lebensräume zurückzuerobern, sondern auch die Zeit. Zeit für Spaß, Schmusen, jede Form von künstlerischer und kreativer Arbeit, Zeit für andere Menschen. (...) Wichtig ist, daß wir die persönlichen Beziehungen und Gruppenstrukturen über den Verlust des Hauses erhalten.“

Das war 1981. Man hatte sie damals als Exoten belächelt, als die Hausbesetzungen die Abendschau füllten, und fachsimpelte in der Kneipe über Spekulantentum. Irgendwann, als die Spontis längst legalisiert und rasiert waren und „leichter und mehr auf die Reihe kriegen“ konnten, stellte man fest, daß das zwischen Senat und Hausbesetzern ausgehandelte 800-Mark-Programm eine nützliche Sache auch für eigene Belange sein könnte, kaufte ein Haus, strich die Kohle ein, und leistete sich dafür das totalverkieferte Dachgeschoß, schwindelerregende Kredite und Einlagenerhöhungen, ein Monopoly, bei dem irgendwann einer auf der Strecke bleiben mußte.

Schneller als erwartet kommt die Stunde der Bewährung. Weltgeschichte mischt sich in die Gruppendynamik. Kreuzberg wird erschlossen, die Mauer fällt und mit ihr alle Hemmungen. Teilhaber S., jobbender Student, der im Erdgeschoß in den Laden einziehen wollte, wird gebeten, aus sozialen Gründen von seinem Lebensraum zurückzutreten. Eine entsprechende Ablösesumme wird in Aussicht gestellt, wenn er nicht mehr über Los geht. Seine Straßenzüge fielen an ein privates Gewerbe, das sich aufgrund der guten Lage schon lebhaft für das Objekt interessiert und eine höhere Miete beziehungsweise Kapital anbieten könne. Beim Schuldenstand des Hauses bleibe keine andere Wahl. Die übrigen Besitzer profitierten dafür in Form einer niedrigen Miete, die sie von Untermietern entlasteten.

Früher als die Bewohner hängen die Kletterpflanzen an den Fenstern, atmen Zitronenlack und Biofarbe. Bei der Kaffeerunde fragt sich die Gruppe, ob sie manches vielleicht heute anders machen würde. Zum Beispiel paßt der Fassadenton nicht zum Dach. Aber sowas sieht man eben erst hinterher. Beim abendlichen Spaziergang über den jetzt stets belebten Kiezboulevard sinnieren H. und L. über ihren Lebensabend. Laut ist es geworden, lärmig, dreckig im pastellen Herrgottswinkel. Kreuzberg ist nicht mehr, was Kreuzberg einmal war.

Ro

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