„Lieber sprengen wir uns selbst in die Luft...“

Die Weltausstellung 2000 bringt die Venezianer in Wallung / Ihre Stadt ist kaum mehr bewohnbar / Vier Fünftel der alten Bausubstanz sind bereits vom Verfall bedroht  ■  Aus Venedig Werner Raith

Das Vokabular gemahnt mittlerweile schon fast an Kriegszustände: Vor drei Jahren war es der Ruf „Die neuen Türken kommen!“ - gemeint waren die Rucksacktouristen, die kaum Geld ausgeben, aber mit ihren Schlafsäcken und durch wildes Campen den ohnehin kleinen Grünflächen hart zusetzten. Vor zwei Jahren war es „der Überfall der Condottieri“: das Gipfeltreffen der sieben wirtschaftsstärksten Nationen, bei dem ein Heer herumkletternder Geheimagenten, rumpelnde Fregatten und unentwegt knatternde Helikopter die Renaissancefassaden zu Dutzenden wegbröckeln ließen. Mitte 1989 schließlich kam noch ein Konzert von Pink Floyd auf dem Markusplatz dazu, mittlerweile als „Attacke des Neobarbarismus“ in die Geschichte eingegangen: mehr als 70 Tonnen Abfall lagen danach auf der Piazza, das Dreifache fischten die Müllgondler aus dem Canale Grande, die Bauwerke ringsum wiesen nach dem Gebrüll der Megawatt-Lautsprecher Schäden in Höhe von mehr als zehn Millionen Mark auf. „Lieber sprengen wir uns selbst in die Luft, als diese Barbaren noch mal reinzulassen“, rief ein aufgebrachter Bürger in eine Stadtratssitzung hinein.

Nun droht neues Ungemach: Das Pariser „Bureau International des Expositions“ (BIE), zuständig für die Vergabe der Weltausstellungen, hat vergangene Woche die „Kandidatur“ Venedigs - zusammen mit Toronto und Hannover - für die „Expo 2000“ angenommen. Skurrilerweise obwohl der Bürgermeister der Stadt zusammen mit einer umfangreichen Delegation aus Repräsentanten der Lagunengemeinden und zahlreichen Intellektuellen extra angereist war, um dem BIE die „Schnapsidee einiger unserer Minister“ (so das Memorandum des Umweltschutzverbandes „Italia nostra“) auszureden.

Nichts zu machen: auf der anderen Seite sind mächtige Interessen für die Veranstaltung im Spiel - und nicht nur italienische. Ausgekocht hatten die Kandidatur 1985 die drei im Volksmund in Erinnerung an alte Zeiten „Dogen“ genannten mächtigsten Politiker der Region: der Sozialist Gianni De Michelis, damals Arbeitsminister, heute Außenamtschef, der Christdemokrat Costante Degan, damals Gesundheitsminister, und Bruno Visentini, seinerzeit Finanzminister und mittlerweile Präsident der industrienahen Republikanischen Partei. Degan ist inzwischen gestorben, die örtlichen Christdemokraten stehen der Sache nun eher indifferent gegenüber. Visentini hat sich auch zurückgezogen - der derzeitige „Expo“ - feindliche Bürgermeister Antonio Casellati kommt aus seiner Partei -, und zwar auf Geheiß des Partei - Hauptsponsors Gianni Agnelli (FIAT). Der hat zwar vor drei Jahren im Vorgriff auf die mögliche Weltausstellung eine Reihe ehrwürdiger Bauwerke restaurieren und den Palazzo Grassi zu einem der wichtigsten Ausstellungspaläste Italiens ausbauen lassen. Doch solches Mäzenatentum soll vorwiegend der Verbesserung des durch Luftverschmutzung und andere Gemeinwohlschädigungen lädierten Images des Auto- und Rüstungskonzerns dienen, und so möchten die Agnellis auf gar keinen Fall, daß in ihrem Einzugsgebiet der Verdacht weiterer Umweltzerstörung aufkommt. Genau das aber befürchten die Venezianer, wenn auf ihre 120 Inseln und Inselchen - ohnehin durch Hochwasser und die Industriegifte auf dem nahen Industriedreieck Padua, Mestre und Marghera existenzgefährdet - nun „Expo„-repräsentative Neubauten der Architekten-Avantgarde kommen. Ganz abgesehen von der Zunahme des sowieso schon weit übers Erträgliche hinausgehenden Tourismus mit bis zu 50.000 Besuchern pro Tag (auf knapp einem Quadratkilometer Fläche Sehenswürdigkeiten).

Doch da ist auch die andere Seite: Gianni De Michelis, der Sozialist, ist wilder denn je entschlossen, die „Expo“ nach Venedig zu holen (und als Außenamtschef hat er dazu auch das - vorläufig - letzte Wort). Dabei hat er mächtige Alliierte

-und zwar nicht nur den französischen Staatspräsidenten Fran?ois Mitterand, der seit jeher für die Stadt am Canale Grande schwärmt. Auch aus Übersee sind da große Interessen im Spiel: Ganz zufällig nämlich ist der Bruder des italienischen Außenministers Chef der Niederlassung von IBM

-und der Superkonzern hat schon lange ein Auge auf die Lagunenstadt geworfen, überschwemmt sie geradezu mit gigantomanischen Plänen.

Mal sollen - als Pilotprojekt für sämtliche andere Kulturstädte Italiens - alle Kunstgegenstände computererfaßt und -beschrieben, katalogisiert und die Ergebnisse exklusiv natürlich - in aller Welt angeboten werden, mal wollen die Trustchefs ganze Inseln erwerben und Repräsentativbauten oder Erholungsstätten draufsetzen, mal ganze Kanalzeilen für Ausstellungsprojekte mieten. Die da meist im Wege stehenden rigorosen Verbote zur - auch vorübergehenden - Demontage der Kunstwerke, der Bebauung, der Fremdnutzung, die der einstige Staatssekretär Giuseppe Galasso (ein Republikaner) 1984 durchgesetzt hat, ließen sich am besten durch die „Expo“ knacken: Ähnlich wie bei den Einzugsgebieten für die Fußball-Weltmeisterschaft 1990 würde die Regierung wohl notgedrungen einen Großteil der Restriktionen aufheben, im „Interesse“ der Repräsentativität.

Doch die Venezianer, bisher immer zu Kompromissen bereit, speziell wenn die Aussicht auf viel neues Geld besteht, scheinen aufgrund der letzten Vorgänge nachhaltiger Zerstörung diesmal nicht mehr bereit zu sein, weitere Gefährdungen ihrer wichtigsten Einkommensquelle in Kauf zu nehmen: Mehr als vier Fünftel der Bauwerke und Kunstgegenstände, so eine Erhebung der UNESCO, sind bereits schwer gefährdet, ein Drittel gar unrettbar verloren. Dazu kommt, als weiterer Faktor neuer Bewußtseinsbildung, daß die Venezianer ihr Venedig immer weniger lebenswert finden: Mehr als die Hälfte der nach dem Krieg gezählten 170.000 Einwohner ist inzwischen abgewandert, die übrigen bleiben in einer unwohnlichen Stadt, weil sie ihre Läden, Banken, Restaurants und Bars bewachen müssen.

„Freiwillig bleibt hier keiner“, rief ein aufgebrachter Kustode FIAT-Chef Agnelli bei einem Rundgang entgegen, wo dieser sich gerade Lob für die schöne Restauration des Palazzo Grassi erwartet hatte. Nirgendwo mehr findet man das sonst in allen Städten selbstverständliche Handwerk, nicht einmal Reparaturläden gibt es - wo Raum ist, hat man einen Souvenirladen, ein Imbißlokal oder eine Wechselstube hineingezwängt, in den oberen Stockwerken sitzen Kunstmakler oder Veranstalter für Sightseeing-Touren. Das Leben ist teurer als in jeder anderen italienischen Stadt - während der Hochsaison kostet ein einziger Granny-Smith-Apfel umgerechnet bis zu vier Mark. Begegnungsstätten für die „Ureinwohner“ gibt es allenfalls noch ein Dutzend, weit abgelegen und daher von der Stadt kaum gepflegt - und mittlerweile zum großen Teil auch schon von Spekulanten ins Auge gefaßt, um sie für die „Expo 2000“ zu nutzen und damit endgültig zu zerstören.

Mittlerweile läuten die Alarmglocken auch bei den Regierenden: Mitte 1989 trat der sozialistische Bürgermeister zurück, nachdem ihm seine Zweifel am Sinn der „Expo“ einen mächtigen Rüffel von De Michelis eingetragen haben. Er wird sich bei den Stadtratswahlen im Frühjahr als PSI-Dissident mit eigener Liste präsentieren. Und die meisten Aussichten, Bürgermeister zu werden, hat inzwischen einer, der zu den Unorthodoxen im Lande gehört: der Philosoph Massimo Cacciari, 48, einst PCI-Abgeordneter, mittlerweile einer der anerkanntesten Denker einer postmodernen, mit viel Grün und „Ambientalismus“ garnierten neuen Politik der Kommunisten. Nicht nur, daß er die Weltausstellung 2000 „mit allen Mitteln verhindern will“ er hat, bislang als einziger, den Venezianern konkrete Pläne vorgelegt, um ihnen „die Lebendigkeit der Stadt durch eine Sanierung des Wohnbereichs und der Infrastruktur“ zurückzugeben, die Touristenströme durch eine Art Numerus clausus zu beschränken und endlich das seit Jahrhunderten immer wieder versprochene Projekt einer Kanalisation des Hochwassers durch mobile Schleusen zu realisieren. „Auf daß unsere Stadt ihren in der Renaissance zu Recht erworbenen Namen wieder tragen kann“. Damals bekam Venedig die Bezeichnung „la Serenissima“, die Heitere.