Öffnung zum Alltag

Zum Grenzdurchgang am Brandenburger Tor  ■ K O M M E N T A R

Inflation der geschichtlichen Stunden, Medienrauschen, große Worte mit begrenzter Haltbarkeit, Staatsmännerauftrieb quer durch beide deutsche Republiken. Ist es das nun wieder, die Öffnung des Brandenburger Tores? Für den Arbeiter Gerhard Börner aus Leipzig-Böhlen ist es jedenfalls etwas anderes. Nach dem 9. November hatte er sich geweigert, seine Leipziger „Montagsläufe“ auf dem Kudamm fortzusetzen. Das Begrüßungsgeld hat er auch nicht abgeholt. Aber jetzt wird er kommen. „Jetzt kann ich mit hocherhobenem Haupt durchs Brandenburger Tor gehen.“ Das offene Brandenburger Tor hat nichts mehr zu tun mit der Öffnung der Mauer. Es wird niemand mehr freigelassen. Es gibt keinen freien Westen mehr. Die ganze Freiheit der Nachkriegszeit, die sich bis zur Unkenntlichkeit von der Unfreiheit der anderen nährte, hat sich aufgelöst. Freiheit ist endlich - hierzulande - auf dem Weg, so selbstverständlich zu werden wie die Luft zum Atmen. Und wer wollte dauernd übers Atmen reden. Das ist der Unterschied zum 9. November.

Beklagen wir uns nicht über die Flut von historischen Stunden, die uns in den letzten Wochen überschwemmt hat. Sehen wir genauer hin: Die Inszenierungen, die Rituale, die Rhetoriken, die Staatsmänner kamen immer um ein paar Takte zu spät. Da die Medien sich nun genau auch um diese paar Takte verspäteten, wirkten sie wie die Macher der Geschichte. Aber die Geschichte wird von den Massen gemacht, zum Massenverbrauch, zum Alltagsgebrauch. So ist die Öffnung des Brandenburger Tores kein Staatsakt, sie ist ein Menschenakt, kein Verhandlungserfolg in Dresden, sondern Diktat einer Realität. Die Oberen beschließen, kodifizieren, inszenieren nur noch, was längst das Volk angeschoben hat.

Blicken wir also nicht so sehr auf die Kohls und die Modrows, auf die Parasiten der Geschichte, auf die Inszenierungen der Machterhalter! Natürlich hat die Geschichte der letzten Monate alle Ablagerungen der trüben deutschen Geschichte aufgewirbelt. Im Leihhaus der großen Worte gibt's ohnehin nur Ladenhüter: Wiedervereinigung, Nation, Deutschland usw. Es ist tragisch, aber auch typisch, daß die deutsche Linke sich so auf die alten Ängste, alten Worte, alten Weltbilder versteift und bitterernste Abwehrschlachten gegen aktualisierte Ungleichzeitigkeiten führt. Logisch: Die guten alten Feinde sind immer bequemer als das Neue, das die eigenen Weltbilder verhöhnt. Wiedervereiniger, Antiwiedervereiniger, ein deutschlandpolitisches Komikerpärchen, das sich zum Pathos bitter braucht.

Nein, die Öffnung des Brandenburger Tores hat eine andere Bedeutung. Sie war ja schon seit dem 9. November angesagt, die historische Stunde war vorgemerkt. Am 9. November war keine Inszenierung denkbar, weil's ein Putsch der SED -Häuptlinge gegen den drohenden Gegenputsch der Stasi war; weil's auch um das Weglaufen der SED-Machterhalter gegen die andrängenden Massen von Leipzig ging. So wird eben die Inszenierung nachgeliefert. Aber es ist mehr: Es ist die symbolische und reale Aneignung von Berlin. Die Berliner nehmen ihre Stadtmitte wieder in Besitz. Die Stadtmitte war bis zum Augenblick eine absurde Doppelrandlage, am Rande von hüben und drüben. Jetzt endlich hat der Alltagsausdruck „in die Stadt gehen“ wieder Sinn. Berlin entläßt sich selbst aus dem Sonderauftrag der Weltgeschichte. Insel der Freiheit, Hauptstadt, Tapferkeit für dieses und jenes - so gut hat das alles nicht getan. Die Stadt der weltgeschichtlichen Freiheitskämpfer war eher gehässig. „Geh doch nach drüben“, hieß es, wenn's jemand mit der Freiheit allzu wörtlich nahm. Jetzt beginnt das Stadtleben, jetzt beginnt die wahre politische Rolle der Stadt - aus ihrem eigenen Gewicht heraus. Jetzt sind die geliehenen und verliehenen Kostüme weltgeschichtlicher Aufgaben endlich ausgestanden.

Mit der Öffnung am Brandenburger Tor ist Berlin zum kleinen Haus im europäischen Haus geworden - mit Zimmern zur Aussicht, nach beiden Seiten. Es ist die Utopie in dieser Stadt denkbar, die Utopie eines Zusammenlebens bei Durchmischung verschiedener Gesellschaftsordnungen, die Utopie einer Gesellschaft, die vorläufig ist, wo die staatlichen Grenzen die Phantasie anreizen und nicht abtöten. „An irgendeiner Erfahrung muß doch die wahrheitssuchende Geschichte des Menschengeschlechts angeknüpft werden“, sagt Kant im Streit der Fakultäten. Er nennt das „Geschichtszeichen“, ein Zeichen, das erlaubt, „auf das Fortschreiten zum Besseren als unausbleibliche Folge“ schließen zu dürfen. So ein Geschichtszeichen ist diese Öffnung.

Klaus Hartung