„Demokratisch-zentralistischer DDR-Provinzialismus“

■ Gerd Irrlitz, Hochschullehrer für Philosopie an der Humboldt-Universität, ist mit Beginn des außerordentlichen Parteitages, auf dem die SED ihren Erneuerungskurs propagierte, aus der Partei ausgetreten / Irrlitz begreift die Wende der SED jedoch in erster Linie als Konsolidierung ihrer Leiterschicht / Das Gespräch führte Walter Süß

Professor Gerd Irrlitz (54) lehrt Geschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie an der Humboldt -Universität Berlin/DDR. In Leipzig geboren und aufgewachsen, hat er dort bei Ernst Bloch studiert. Im Zusammenhang mit der Zwangsemeritierung des Autors von „Prinzip Hoffnung“ 1957 hatte Irrlitz sein erstes „Parteiverfahren“. 1958 bis 1961 wurde er „zur Bewährung in die Produktion“, in die Buna-Werke, geschickt. Seit 1961 konnte er bei der Akademie der Wissenschaften der DDR wieder in seinem Beruf arbeiten, mitwirkend an der Edition historischer philosophischer Texte - ohne Lehrerlaubnis. Erst 1971 bekam Irrlitz die Möglichkeit, an der Humboldt -Universität Vorlesungen zu halten, und noch sehr viel später, 1984, wurde er auf einen Lehrstuhl für Philosophie berufen. Bereits ein Jahr später bekam er erneut Ärger mit der Partei. Ein in 'Sinn und Form‘ veröffentlichter Aufsatz „Ernst Bloch - der Philosophiehistoriker“ wurde zum Vorwand genommen, um den unbequemen Denker mit einem Parteiverfahren zu überziehen. Diesmal endete es - knapp vor dem Ausschluß mit einer „strengen Rüge“. Mitte Dezember 1989, nach dem Beginn des Außerordentlichen Parteitages, ist Gerd Irrlitz aus der SED ausgetreten.

taz: Sie haben lange Jahre die stalinistischen Strukturen der SED ertragen. In dem Moment aber, in dem diese Partei einen ersten Bruch mit diesen Strukturen vollzieht, sind Sie ausgetreten.

Gerd Irrlitz: Ich habe diese Strukturen nicht ertragen, sondern ich bin in diesen Strukturen in Opposition gewesen und mehrfach von der Partei hart angefaßt worden. Es wurde versucht, meine Arbeitskraft zu beeinträchtigen oder möglichst zu brechen. Als hier 1985 das letzte Tribunal war, traten Leute aus meiner Parteiorganisation auf und sagten: „Ja, aber wir kennen den Gerd Irrlitz seit vielen Jahren und wir wissen, daß diese Auffassungen, die er vertritt, immer wieder vertreten werden. Und wir müssen bedenken, daß der Gerd Irrlitz hier Vorlesungen hält und Einfluß auf Studenten hat! Das geben wir doch noch einmal zu bedenken!“ Es gab immer wieder Versuche, wenn es zu einem Kompromiß gekommen war, erneut nachzuhaken, nachzufassen, um meine Arbeitskraft endgültig zu brechen. So ist meine ganze Existenz in dieser Partei gewesen. Von daher gab es für mich keinen anderen Weg als den Parteiaustritt, wenn ich meine Arbeitsproduktivität erhalten und noch etwas Vernünftiges arbeiten will. Ich mußte mich von diesem, jedes konsequente Denken zerbrechenden psychischen Druck befreien. Ich verstehe mich als ein stark bedrängter und durch seine besten Jahre in seiner Arbeit beeinträchtigter Theoretiker. Der muß sich jetzt auf das Gebiet konzentrieren, auf dem er denkt, etwas machen und mitwirken zu können, auf das Gebiet der deutschen demokratischen Kultur. Da ist die Zugehörigkeit zu irgendeiner Partei für mich gegenwärtig überhaupt nicht und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht möglich.

Ist die Entscheidung zum Austritt sehr lange herangereift und nur zufälligerweise mit dem Beginn des SED-Parteitages zusammengefallen, oder hat es einen direkten Auslöser gegeben?

Es hat einen Auslöser gegeben. Das ist der Coup d'Etat dieses Leitungsausschusses gewesen. Das ZK wurde in einem statutenwidrigen Verfahren abserviert. Manfred Weckwerth, das ZK-Mitglied, sagt ganz deutlich: Ich wußte davon überhaupt nichts! Ob ich noch ZK-Mitglied bin oder nicht ich bin nicht zurückgetreten! Und so geht es wahrscheinlich den meisten ZK-Mitgliedern. Das heißt, sie wurden einfach abserviert, auch das alte Politbüro. Dann hat dieser Lenkungsausschuß den Abschluß der Delegiertenwahlen für den Parteitag abgewartet und den Parteitag eine Woche vorverlegt. Als die Delegierten ankamen, hat man denen gesagt: Ihr sollt nur den Vorstand wählen, nicht über das Programm, den Inhalt, diskutieren. Wir brauchen jetzt eine starke Führung - so Modrow wörtlich - eine starke Führung, der Vertrauen entgegengebracht werden kann. Das ist das, was ich seit Jahrzehnten höre. Dann sind die Leute wieder nach Hause geschickt worden - ein unglaublicher Vorgang. Von dem Rücktritt des ZK, der nur einem Parteitag angeboten werden kann und den nur ein Parteitag annehmen kann, ist überhaupt keine Rede mehr gewesen. Das heißt, diese Leute sind abserviert worden von einer neuen Gruppe, die jetzt versucht, die Partei vom Zentrum her basisdemokratisch zu erneuern. Das sind sehr schlechte Vorzeichen.

Weiter ist die unzureichende und verstellte Art, wie mit der Vergangenheit aufgeräumt wurde, ausschlaggebend gewesen. Wir haben nicht mit dem sogenannten „Stalinismus“ aufzuräumen, den gab es in der DDR nicht. Stalinismus, das heißt, daß zehn Prozent der Bevölkerung beim Aufbau des Sozialismus ermordet wurden. Das gab es in der DDR nicht. Wenn wir hier einen stalinistischen Staat hätten, dann gehörte der vom deutschen Boden getilgt, genauso wie ein bürgerlich-diktatorischer Staat. Man versucht jetzt, sich auf populistische Weise angenehm zu machen, indem man sich widerlich macht. Genauso ist es mit den Korruptionsaffären. Das sind völlig unwesentliche Begleiterscheinungen: Die Korruptionsaffären, die es gab, und der sogenannte Machtmißbrauch sind notwendige Konsequenzen eines falschen Systems. Das ist nicht irgendein Machtmißbrauch von jemandem, das sind nicht korrupte einzelne Leute, sondern das geht aus dem System notwendigerweise hervor. Die haben wesentliche politische Fehler begangen, aber das liegt im ganzen System. Das ist die Endphase eines verkehrten Systems, das 1917 noch sehr gescheit aussah, das 1945 oder 1947 noch sehr gescheit aussah, aber es war damals schon verkehrt. Daß das, wenn es in die fortgehende Krise gerät, groteske Formen annimmt, das ist doch ganz klar.

Das war für mich der Ausschlag, weshalb ich sagte: Wenn sie die Partei aufgelöst und in neuer Form begonnen hätten, sich wirklich in ein breites antimonopolistisches Bündnis zu öffnen - das wäre etwas gewesen, woran ich hätte mitwirken wollen. Aber dieser Parteitag ist der Parteitag der Konsolidierung der herrschenden Leiterschicht in der DDR, die die obersten Spitzen abgetan hat.

Ist es denn noch die gleiche Schicht?

Selbstverständlich. Sie sind doch (z.B. in der Universität; WS) alle noch da: der Rektor, der Prorektor, der Sektionsdirektor. Der Parteisekretär war schon vorher im Sekretariat der Kreisleitung. Das ist eine völlig absurde Situation, wenn man meint, man müßte einige Leute ins Gefängnis stecken, laut über Korruption schreien und im übrigen versuchen, die ganze darunter befindliche Leiterschicht im Amt zu lassen. Es ist absurd, wenn man meint, daß man damit die Ermüdung der Werktätigen an den Leitern, an den Betriebsleitern, an den Abteilungsleitern, in der Universität, in jeder Schule, in jedem Krankenhaus beseitigen könnte.

Gysi würde darauf sicherlich antworten, die Konsequenz dessen, was Sie fordern, wäre die Entstehung eines politischen Vakuums im doppelten Sinne: einmal daß die SED weg wäre, und zum zweiten sei es schwer vorstellbar, die ganze Leiterschicht, alle Funktionsträger, loszuwerden.

Das würde er nicht nur antworten, das hat er schon geantwortet - laut und vernehmlich auf dem Parteitag. Das ist die These aller Möchtegerndiktatoren: Wenn wir nicht herrschen, dann ist ein Vakuum. Ich bin der Überzeugung, daß es statt der gegenwärtigen Leiter jeweils zehn qualifizierte Leute gibt, die parteilos sind, die das alle besser machen würden. Und die eine logische Autorität finden würden. Wenn man dann sagt: Wenn wir nicht mehr da sind und die Leiter stellen, dann entsteht ein politisches Vakuum - das ist der traditionelle Sendungs- und Alleinvertretungsanspruch, den diese Partei in dieser Gesellschaft hat. Merkwürdigerweise ist dieser Anspruch jetzt mit einem Sammelsurium anderer Gedanken verbunden: Öffnung und Zusammenarbeit am runden Tisch, über den man die anderen Kräfte ziehen möchte.

Da entsteht überhaupt kein Vakuum, da entsteht eine wirkliche Gesundung der Gesellschaft, weil man endlich der Bevölkerungsmehrheit, die leistungsfähig ist, die moralisch integer ist, die eine wirkliche Fairneß in den Arbeitskollektiven hat, weil man der endlich Platz verschafft. Das wäre etwas gewesen, was wirklich einer Achtung der Souveränität dieser demokratischen Volksbewegung entspräche. Aber statt dessen erhält man diese Partei. Das ist der Parteitag der Konsolidierung der Leiterschicht gewesen. Als soziale Schicht, die bisher mit absoluter Macht das Nationaleinkommen verteilt hat, braucht diese Schicht diese Partei, denn ohne die zerfällt die SED. Wenn Gysi das den Sturz der DDR-Gesellschaft in ein Vakuum nennt, dann ist das entweder demagogisch, oder der Mann weiß nicht, was er redet und was die Menschen in den Betrieben oder den Krankenhäusern wirklich denken.

Auf politischer Ebene wäre ein Problem bei dieser Variante doch, daß Sie eine Regierung hätten, die dann um eine Partei aufgebaut wäre, die nicht mehr existiert und die damit jegliche Legitimität verloren hätte.

Das hat auch Herr Modrow gesagt. Auf dem Vorkongreß soll Hans Modrow gesagt haben: Wenn diese Partei nicht weiter existiert, fällt die Regierung und mit der Regierung die Selbständigkeit dieses Landes. Ein weitgehender Satz, wenn jemand sagt: Wenn meine Regierung nicht mehr existiert, dann wird dieses Land seine Souveränität einbüßen. Das sind Ansprüche, die kenne ich von Walter Ulbricht, von Erich Honecker, die kenne ich von all diesen Leuten: daß man sich für unvermeidlich hält. Das ist ein Vorgehen, das an Leninsche Zustände erinnert: hauptsächlich ein funktionierendes Zentrum, eine Elite von Berufsrevolutionären zu haben, die dann der Basis wieder vorlegen, was sie zu machen gedenken. Und die dann natürlich eine sogenannte „breite demokratische Aussprache“ organisieren.

Sie sagen, daß dieses Projekt, das 1917 begonnen wurde, von vornherein gescheitert war. Insofern repräsentiert die DDR, wie auch immer sie sich verändern mag, dieses gescheiterte Projekt?

Selbstverständlich.

Hat von daher gesehen die DDR als eigener Staat überhaupt irgendwelche Zukunftsperspektiven?

Die DDR hat in den nächsten Jahren als eigener Staat eine politische Funktion erstens gegenüber den Bürgern in der DDR, die vierzig Jahre lang hier gelebt haben und das Land nach dem Kriege mit einer falschen politischen Orientierung aufgebaut haben. Sie hat zweitens eine Funktion innerhalb des KSZE-Prozesses und drittens hat sie eine Funktion gegenüber den Reformprozessen in der Sowjetunion. Ich glaube, diese Reformprozesse, die auch ein krisenhafter Vorgang sind, würden sehr negativ beeinflußt werden bei einem raschen Übergang der DDR in eine Konföderation. Das würde die politische Auseinandersetzung in der Sowjetunion sehr negativ beeinflußen. Das wären auch internationale Zumutungen, die die anderen Siegermächte einer Siegermacht nicht zumuten können und sollen. Unter diesen drei Gesichtspunkten hat die DDR zweifellos eine wichtige Bedeutung, und die Beseitigung der Souveränität der DDR ist überhaupt kein Thema, auch nicht die sogenannte Wiedervereinigung. „Wiedervereinigung“ bedeutet eine Vereinigung in den Grenzen von 1937, das ist ein völlig verfehlter Ausdruck, weil die Sache selbst überhaupt nicht möglich ist. Insofern kann die Souveränität der DDR nicht in Frage stehen.

Es kommt aber erstens darauf an, sich den ökonomischen Realitäten der DDR zu stellen und zweitens, ein positives Konzept zu entwickeln über Vertragsgemeinschaft, Konföderation zu einem völkerrechtlich für Gesamteuropa toleranzfähigen Zusammenwachsen der beiden Teile der deutschen Nation. Was die ökonomische Problematik betrifft: Die bisherigen Produktionsverhältnisse des sogenannten Realen Sozialismus haben im ökonomischen Sinne einen reaktionären Charakter. Sie haben - wenn wir einmal von der deutschen Nation ausgehen - einen Teil dieser Nation von der Revolution der Produktivkraft Arbeit und Wissenschaft abgekoppelt und sie um mehr als zwanzig Jahre zurückgehalten. Da spielt es zunächst keine Rolle, daß die Explosion der Produktivkräfte, die seit dem Ende der 40er Jahre von den USA ausgehend eingesetzt hat, in Form des Kapitalverhältnisses durchgesetzt worden ist. Marx sagt: Gesellschaftsformationen gehen nie unter, bevor nicht alle Potenzen, für die sie weit genug sind, ausgereift sind. Die Leninsche Auffassung, daß mit dem Übergang zum Monopol der Kapitalismus in seine Endphase in Form eines faulenden, sterbenden Kapitalismus eintritt und daß das die Epoche der proletarischen Weltrevolution ist, ist damals schon verkehrt gewesen. Es hat sich gezeigt, daß seit 1915 bis zur Jahrhundertwende das Kapitalverhältnis die Form ist, in der die notwendige Steigerung der Produktivkraft der Arbeit stattfindet. Das Kapitalverhältnis schafft in der explosiven Steigerung der Produktivkraft der Arbeit die materiellen Voraussetzungen, die es überhaupt erst ermöglichen, eine einheitliche Weltzivilisation in den kommenden zwanzig, dreißig Jahren in Angriff zu nehmen. Es muß ja ein Überschuß produziert werden und eine Technik entfaltet werden, die es möglich machen, ganze Zivilisationskreise wie Lateinamerika, Afrika, Asien im kommenden Jahrhundert in einem raschen Prozeß auf das Niveau der entwickeltsten Staaten zu führen, und das in einem ökologischen Sinne, in dem Sinne, daß die Naturbasis des gesellschaftlichen Lebens mitreproduziert wird. Ohne diese Steigerung der Produktivität ist es überhaupt nicht möglich, große Zivilisationsteile auf ein entwickeltes Niveau zu heben. Wenn man dieses Niveau nicht hat, schafft man dort Diktaturen, um dann mit Gewalt Gleichheit zu schaffen. Das führt zu Zerfall und zu Zerstörung, wie es in der Sowjetunion der Fall ist und wie es in China der Fall sein wird. Insofern ist das, was sich in diesem Jahrhundert abgespielt hat, eine notwendige Voraussetzung für eine Öffnung der Menschheitszivilisation in eine nachkapitalistische Zivilisation. Und da heraus hat Lenin die revolutionäre Arbeiterbewegung gebrochen. Das Resultat ist gegenwärtig, daß der Sozialismus schlechter da steht als 1917/1918.

Die deutsche Nation aber - und insbesondere die DDR -Bevölkerung - hat ihre Probleme zu lösen im Interesse einer Beförderung der Umgestaltung in der Sowjetunion. Was sich dort abspielt, halte ich für viel wesentlicher für die europäische Zivilisation als die Entwicklung der DDR. Bisher hatten wir einen militär-bürokratischen Provinzialismus, jetzt kriegen wir einen „demokratisch-sozialistischen“ Provinzialismus. In der Sowjetunion ist 1917 mit einem heroischen großen politischen Aufschwung ein neuer Weg eingeleitet worden. Der hat sich als ein Irrweg erwiesen, der von der Geschichte zurückgenommen wird. Aus der Sowjetunion kommen seit 1985 die Erneuerungstendenzen. Durch diese Erneuerungstendenzen sind die Entwicklungen in Ungarn, in Polen, in der DDR, in der CSSR überhaupt erst möglich geworden. Was von da kommt, das ist das entscheidende Ingredienz einer Erneuerung der Weltzivilisation. Wenn wir das jetzt sehen, wie es diesen Menschen geht, in welch krisenhaften Prozessen diese Staats- und Parteiführung steht, wenn man sieht, was die russische und die anderen Nationen in diesem Staat leiden seit 1917, dann kann es überhaupt nichts anderes geben, als daß man sagt: Eines der wesentlichen Kriterien für die Lösung der Probleme der DDR muß sein, daß die Umgestaltungsprozesse in der Sowjetunion gefördert und nicht beeinträchtigt werden. Denn da spielt sich die wirkliche Tragödie des europäischen, leninistischen Sozialismus und die Tragödie der Erneuerung ab, wie diese Völker um ihre Zukunft ringen. Das muß die europäische Zivilisation unterstützen. Darauf müssen wir unseren Blick richten.