Ein Neues Jahr zwischen Freude und Sorgen

Sylvester in der Bremer Partnerstadt: Kaum öffentliche Feiern / Opposition „empört“ über neue Geheimdienst-Pläne  ■  Aus Rostock H. Bruns-Kösters

„...und an den Hüften Bananen,“ dudelt es aus dem Lautsprecher. Da ist Tina Trottnow die NDR-II Sylvesterfröhlichkeit endgültig leid. „Haste was dagegen, wenn ich den Scheiß ausmache“, fragt sie und geht durch die Tür, an der die Kopie eines Plakates hängt: „Alle reden von Bananen, wir nicht“, steht drauf und „NEUES FORUM“. Tina und Kay Trottnow wohnen mit ihren zweieinhalb und ein halbes Jahr alten Töchtern in der Rostocker Altstadt, einem großen Viertel, dem die früheren architektonischen Reize kaum mehr anzusehen sind. Häuserzeile um Häuserzeile ist dem Verfall preisgegeben.

Die Altstadt, das ist das Zentrum der Hausbesetzer, der „Schwarzwohner“. So auch Trottnows. Bis vor zwei Jahren räumten Stasi-Truppen bisweilen Häuser frei, rissen Öfen, Fenster, Klos, Gas- und E-Leitungen heraus. Getan hat sich danach nichts, die vergammelten Ruinen stehen nach wie vor herum, jetzt unbewohnbar. Auch das Haus der Trottnows ist kaum mehr bewohnbar. Das Flurlicht funktioniert nicht, das Klo im Treppenhaus ist verstopft, die Kohleöfen kommen kaum gegen die kalte Luft an, die durch die Fenster zieht. „Allmählich wird das lebensgefährlich hier“, sagt Kay,

der eine Etage in einem Nachbarhaus saniert. Im letzten Vierteljahr sind diese Arbeiten kaum vorangekommen, denn neben seiner Arbeit als Tischler und dem knappen Rest Familienleben ist er einer der zehn Sprecher des Neuen Forums.

Den Sylvestermorgen verbringt er im Büro, das dem Neuen Forum im Haus der Nationalen Volksarmee zugewiesen worden ist. Und auch beim Abendessen läßt ihn die Politik nicht los. Sehr zum Unwillen der älteren Tochter studiert er eine neue Verordnung der Regierung Modrow, nach der die neuen politischen Gruppen ein Anrecht auf Büroräume, Telefone, Autos, Druckmaschinen und vor allem Geld haben, um für die Unmenge von Arbeit künftig Hauptamtliche bezahlen zu können.

Nein, größere Sylvesterfeiern sind angesichts der Belastungen aller Aktiven nicht geplant. Und auch den anderen RostockerInnen ist nach großen öffentlichen Feiern offensichtlich nicht zumute. Als das neue Jahrzehnt beginnt, stehen nur vereinzelt kleinere Gruppen sekttrinkend auf den Straßen und Plätzen.

Zum Feiern ist den Oppositionellen auch nicht so recht zumute. Denn die „zweite Phase der Revolution“, wie es der Rostocker SPD-Pressesprecher Horst Denkmann nennt, ist ins Stocken

geraten. Die Verlautbarungen der neuen Gruppen und Parteien werden seit 14 Tagen in den Zeitungen der ehemaligen Blockpar

teien kaum mehr gedruckt. Und als sichtbarstes Zeichen, daß die Neuen in der SED die alte Macht wieder herstellen wollen, neh

men die Oppositionsgruppen den Versuch, den verhaßten Stasi durch einen Verfassungsschutz zu ersetzen. In Rostock soll der von den gleichen Leuten aufgebaut werden, die auch schon bei der Stasi Führungspositionen hatten. „Empörend“ findet das beispielsweise Jochen Gauck, Pastor und Mitglied des Neuen Forums. „Wir haben den Staatssicherheitsdienst nicht entmachtet, damit er sich unter einem neuen Firmenschild neu konstituieren kann. Wir können uns schwer vorstellen, daß ausgerechnet die Fachleute des Machtinstruments, das uns alle unterdrückt, geknebelt und niedergehalten hat, die geeigneten Leute wären, unsere Verfassung zu schützen.“

Die totale Euphorie, wie sie die Bilder vor allem aus Berlin suggerieren, diese Begeisterung ist im Rostocker Alltag nicht auszumachen. Pastor Gaucke: „Wir erleben uns hin- und hergerissen zwischen Freude und Sorgen.“

Neujahrsmorgen: Tina Trottnow ist wieder allein mit den Kindern unterwegs. Kay will noch mal eben ins Büro, die neue Verordnung aus Ost-Berlin kopieren und an die KollegInnen im Sprecherrat verteilen.

Mehr über den Alltag und Einschätzungen zur politischen Lage in Rostock, die verfallende Altstadt, über Hausbesetzer und Autonome in der Samstag-taz.