Ereignisdruck

Ein Toter und viele Verletzte am Brandenburger Tor  ■ K O M M E N T A R

Der US-Fernsehreporter sprach live in die Kamera; verkündete, daß es noch nichts Neues gebe an diesem Abend des 9. November. In einer gespenstischen Szene tauchten hinter seinem Rücken am Brandenburger Tor plötzlich DDR -Bürger auf, die über die Mauer kletterten. Auch der weitere Verlauf des Abends war von den Medien weder provoziert noch beeinflußt. Die Leute heulten und jubilierten, weil ihnen eben danach war. Am Tag der Öffnung des Brandenburger Tores schluchzten die Massen schon in die Kamera; und in der Neujahrsnacht war man bereit, für sie zu sterben.

So viele ausländische Touristen und deutsche Berlin -Besucher haben sich selten in der Stadt versammelt wie zu dieser Jahrzehntenwende. Was sie bisher nur als Zuschauer kannten, sollte nun nachgefühlt, nachgespielt werden, denn das mediale Ereignis als solches macht keinen satt. Scharenweise liefen sie über den Ku'damm und vor die Quadriga, die man aus dem Fernsehen kannte: Dort hielt man nach Geschichte Ausschau und wich statt dessen China-Böllern aus. Die TV-Werbekampagne für ein Silvester in Berlin war so erfolgreich, daß sich selbst in der Neujahrsnacht noch Bundesbürger auf den Transit machten und der Party hinterherjagten. Die war aber lange vorbei: Die Reise ging nur in das Land, wo die Kameras stehen.

Damit gerechnet, daß etwas passiert, haben die meisten Medienleute. Daß die Katastrophe geschah, weil das Fernsehen da war, erinnert schon fast an die Geschichte von dem arbeitslosen Polizeireporter, der abends einen Mord begeht, um am folgenden Tag exklusiv darüber berichten zu können. Natürlich haben die Fernsehjournalisten vor dem Besteigen des Gerüstes gewarnt. Darin liegt das Absurde: diese leichtsinnigen Kletterer auf der einen Seite zur Rückkehr aufzufordern und sie auf der anderen Seite zum Objekt der Berichterstattung zu machen, indem man mit der Kamera draufhält und den Betroffenen die Gelegenheit gibt, zurückzuwinken.

Es würde der Stadt deshalb guttun, wenn die filmende Zunft nun kollektiv die Koffer packen würde. Vielleicht wäre die Stimmung rund um die Quadriga dann weniger deutschnational, weil keiner sich genötigt fühlte, eine brennende DDR-Fahne vor das Objektiv zu halten. Und vielleicht würden dann wieder Geschichte und Geschichten gemacht, die nicht aus medialem Ereignisdruck geboren worden sind. Über sowas kann man ja berichten. Hinterher.

Claus Christian Malzahn