Der gnadenlose Ästhet

Marco van Basten wurde „Europas Fußballer des Jahres“  ■  PRESS-SCHLAG

Wohl nie zuvor ist es einem Spieler, der gerade zu „Europas Fußballer des Jahres“ gekürt wurde, passiert, daß seine Wahl am heftigsten ausgerechnet von den eigenen Mannschaftskameraden kritisiert wird. Der Niederländer Marco van Basten jedoch muß wohl oder übel damit leben, daß seine Kollegen vom AC Mailand ihm seinen zum zweitenmal in Folge errungenen „Goldenen Ball“ zwar nicht direkt mißgönnen, aber doch lieber den Zweitplazierten als Sieger gesehen hätten: Franco Baresi, den besten Libero der Welt, ebenfalls in Diensten des AC Mailand, dessen totaler Triumph von Frank Rijkaard auf dem dritten Rang komplettiert wurde.

Baresi selbst war höchst enttäuscht, als er schon vorher erfuhr, daß die Sportjournalisten und Leser der Zeitschrift 'France Football‘ sowie all jene Fußballer, die die Trophäe mindestens zweimal gewonnen haben - als da wären Franz Beckenbauer, Alfredo di Stefano, Johan Cruyff, Kevin Keegan, Karl-Heinz Rummenigge und Michel Platini (als einziger dreimal hintereinander Preisträger) - ihm die Krone vorenthalten würden. „Eine solche Gelegenheit wie in diesem Jahr, die Wahl zu gewinnen, werde ich nie mehr haben. Aber es werden ja immer nur Torschützen prämiert“, klagte Baresi, und Gianluca Vialli von Sampdoria Genua pflichtete ihm bei: „Van Basten ist ein ausgezeichneter Spieler, aber der wahre Leader des AC Mailand ist Franco. Er war im letzten Jahr eindeutig besser als van Basten.“

Van Basten selbst meinte zwar auch, daß Baresi das güldene Bällchen durchaus verdient hätte, verkraftete die Wermutstropfen in seinem Freudenkelch aber ansonsten mit der ihm eigenen selbstbewußten Gelassenheit. „Ich bin kein Phänomen“, stellte er fest, „aber ich bin sehr glücklich.“ Ein Phänomen ist der 25jährige vielleicht nicht, dafür aber mittlerweile nicht nur der torgefährlichste, sondern wohl auch der eleganteste Fußballer der Welt. Das niederländische Fernsehen schnitt im vergangenen Jahr Bewegungsstudien von van Basten und dem führenden holländischen Ballettänzer Clint Farrah übereinander, und die Betrachter waren sich einig, daß die Pirouetten und Drehungen des Fußballers durchaus mit denen des Tanzkünstlers mithalten konnten. Van Bastens Ballführung ist perfekter als die von Ruud Gullit, und er entspricht in keiner Weise dem klassischen Typ des Torjägers Marke „Bomber der Nation“.

Viele seiner Tore sind Produkte einer - sei's drum „phänomenalen“ technischen Feinfühligkeit, Meisterwerke der Ästhetik sozusagen. Johan Cruyff, einst bei Ajax Amsterdam Entdecker und Trainer des damals siebzehnjährigen van Basten, bewundert vor allem die „Vielseitigkeit“, mit der dieser seine Tore schießt - mit links, mit rechts, mit dem Kopf, mit Köpfchen, per Heber, durch Gewaltschuß, er beherrscht sämtliche Varianten. „Er ist aggressiv, ehrgeizig und gnadenlos hart gegen sich selbst.“ (Cruyff)

Trotz seines unbestrittenen Talents machte van Basten auch magere und bittere Zeiten durch. Nachdem er 1985/86 mit 37 Toren in 26 Spielen der niederländischen Liga den „Goldenen Schuh“ für Europas besten Torschützen gewonnen hatte und ein Jahr später für runde fünf Millionen Mark zum AC Mailand gewechselt war, zog er sich langwierige Verletzungen an beiden Knöcheln zu und war nahe daran, seine Laufbahn zu beenden. Nach seiner Genesung drückte er ausgiebig die Ersatzbank, und Milan-Boß Berlusconi dachte daran, ihn wieder meistbietend zu verscherbeln. Doch dann kam die Europameisterschaft, und auch da mußte er beim ersten Spiel gegen die Sowjetunion die meiste Zeit zuschauen. Van Basten war drauf und dran, entrüstet abzureisen, doch Mentor Cruyff und Kapitän Ronald Koeman überredeten ihn zum Bleiben. Wie man weiß, mit bestem Erfolg: van Bastens fünf Tore brachten den Niederlanden den Titel, ein Verkauf kam fortan für Milan nicht mehr in Frage.

Spielerisch ist van Basten inzwischen so gut, daß er auch als Vorlagengeber und Ballverteiler brillieren kann. Was ihm zur Rolle des unumschränkten Regisseurs, zur wahrhaft großen Spielerpersönlichkeit jedoch fehlt, ist das Charisma eines Johan Cruyff oder Ruud Gullit. Cruyff ist nach wie vor sein „Freund und Idol“, dem er eine gewisse Unsterblichkeit attestiert: „Über das Holland von Cruyff wird man noch reden, wenn das Holland von Gullit und van Basten längst vergessen ist.“

Und während der solchermaßen ebenfalls dem Vergessen geweihte Gullit über das Fußballtor hinausschaut, sich politisch, etwa gegen Rassismus und Apartheid, engagiert, mit seiner Reggae-Band die Hitparaden stürmt und zu jedem großen Problem auf dieser Welt eine fundierte Meinung hat, äußerte sein torhungriger Kumpan schon früh andere Präferenzen: „Ich will reich werden. Daran denke ich sehr oft.“

Matti