Faszination und Horror...

■ Der Jahreswechsel am Brandenburger Tor

Die „Nacht der Nächte“ ist vorbei, und zurück bleibt ein Toter, über 100 Verletzte und eine Scherbenspur zerdepperter Sektflaschen. War es das wert, dieses Jahrhundertereignis, wie einige das Spektakel flugs nennen? War es der Gipfel der deutsch-deutschen Verbrüderungseuphorie?

Was in dieser Silvesternacht in Berlin geschah, hatte vor allem hohen symbolischen Wert - eine neue Qualität hatte der Tanz nicht. Was am Brandenburger Tor passierte, war vielmehr der gigantische Versuch zu Reproduzieren, was seit dem Fall der Mauer an jedem neueröffneten Grenzübergang stattgefunden hatte. Es war der Versuch, die Bilder zu wiederholen, die das Fernsehen millionenfach gesendet hatte, die Szenen nachzuvollziehen, an denen man nicht beteiligt war. Ob aus Saarlouis, Frankfurt an der Oder oder Bad Schussenried, aus Pankow, Marzahn oder Lichterfelde, jetzt, zu Beginn des neuen Jahres, wollte man selbst da sein, wo „der Hauch der Geschichte“ weht. Das war es, was die Menschen in dieser Nacht auf den Platz vor das Tor getrieben hat.

Die menschliche Wärme, die spontane Euphorie, die bei den deutsch-deutschen Verbrüderungsszenen am 9. November noch eine Rolle gespielt hatten, lassen sich aber nicht konservieren. Von daher war das Ganze nur ein Abklatsch, die Inszenierung eines Rituals, zehntausendfach vollzogen. Gleichwohl, die Ingredienzien, die diese Nacht zu einer originären werden ließen, haben auch diesmal wieder gestimmt: die massenhafte Umarmung von Ost- und Westlern, von Kanadiern und Chinesen, von Engländern und Italienern im Angesicht eines neuen Jahrzehnts und vor allem zu Füßen eines Bauwerkes, das selbst ein Symbol ist.

Was seit dem 9. November sich in dieser Stadt nun aber breit macht, ist ein Erlebnishunger, eine Sucht nach immer größeren, immer massenhafteren Ereignissen, ein Taumel darüber, daß hier Außerordentliches passiert. Diese Erwartungshaltung trägt jeder Berlintourist im Gepäck, wenn er die Stadt besucht, um seinem grauen Alltag zu entfliehen.

Natürlich, die Massen die den Einzelnen wie ein Sandkorn von hüben nach drüben durch das Tor schoben, die kein Erbarmen vor den Kindern und den Schwachen kannten, sie machen Angst. Natürlich ist sie tumb und laut, die Masse, wenn sie das Individuum in einem Sog erfaßt, dem es sich kaum erwehren kann. Auf Kosten der Masse gehen auch der Tote und die Verletzten, aber, was sie in dieser Nacht nicht kannte, das war der Gleichschritt. Sie war anarchistisch und unstrukturiert, auch wenn die Aggression mit der Nähe zum großen Tor zunahmen. Sie war faszinierend und ein Horror zugleich, aber als alles vorbei war, hatte ein jeder sein eigenes Erlebnis, seine ureigenste Geschichte. Die mit dem Grenzposten oder der Toilettenfrau, mit dem Freund aus Kindertagen, den er in der Menge wiederfand. Die Masse, das macht Hoffnung, war nicht gleichgeschaltet.

So zuversichtlich wie an diesem Jahreswechsel, das haben die Allensbacher Demoskopen ermittelt, sind die Deutschen noch nie seit Kriegsende in ein neues Jahr gegangen. Aber wie lange wird sie anhalten, die Euphorie, der Taumel, wie lange wird die Freude währen, wenn es ans Eingemachte geht? Denn aller Optimismus hört bekanntlich am Geldbeutel auf. Vielleicht gelingt es ja, ein wenig dieser Euphorie hinüberzuretten ins neue Jahrzehnt, scheibchenweise sozusagen.

Karl-Heinz Stamm