Eröffnungsvortrag zur Konferenz "Die Neugier des Neuen - Das unerhört Moderne in der Musik, Prosa und Theorie Theodor W. Adornos", gehalten am 2.11.1989 in Berlin (West)

Ich möchte ganz persönlich anfangen. In den sechziger Jahren wohnte ich in Paris, und es war immer ein Fest für mich, wenn Adorno kam. Er war damals unter den dortigen Intellektuellen so gut wie unbekannt. Nur einige wenige: Rene Leibowitz, Samuel Beckett, trafen ihn, darunter auch der nicht sehr bekannte Schriftsteller Joseph Breitbach, der sehr reich war und Adorno zuliebe eine Party gab, zu der lauter Nachkömmlinge derjenigen Adligen eingeladen waren, die bei Proust vorkommen. Aber nicht auf Anekdotisches will ich hinaus, sondern darauf, daß natürlich inzwischen in Frankreich die Frankfurter Schule ein Begriff ist.

Mit dieser Rezeption nun setzen aber auch die Mißverständnisse ein. Mir ist noch in deutlicher und unangenehmer Erinnerung ein deutsch-französisches Treffen im Centre Pompidou vor wenigen Jahren, bei dem eine deutsche Philosophenriege antrat, die sich auf ein sogenanntes „Lager der Aufklärung“ berief und den zum Dialog geladenen französischen Philsophen, u.a. Derrida, in lehrhaftem Ton klar machte, daß sie in ein anderes Lager, das Lager der Vernunftkritik nämlich, gehörten. Sie benahmen sich wie Leute, die nachträglich den Boden der Demokratie mit Aufklärungsfloskeln unterkellert haben und ihr Wehe schleudern gegen alle, die auf diesem doppelten Boden nicht stehen, Beamte, die der Philosophie den Paß ihrer Prinzipien abverlangen. Die Lagermentalität war es, die mich peinlich berührte und für die ich mich als Deutsche schämte, mehr noch aber die Tatsache, daß dieser peinliche Auftritt von der französischen Öffentlichkeit mit derFrankfurter Schule in Verbindung gebracht wurde, wobei man eine direkte Linie zog von Adorno zu Habermas.

Adorno hat bekanntlich in einem Aufsatz, auf den ich mit meinem Titel angespielt habe, Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, die ihn auf die Rolle eines „Vollenders des Mittelalters“ festlegen wollten. So möchte ich Adorno hier gegen ein Klischee verteidigen, Frankfurter Schule geheißen. Denjenigen, die Adorno schwierig finden und daher lieber auf die Reihe Große Denker oder den Bildband Frankfurter Schule zurückgreifen, möchte ich zurufen: Adorno ist nur in seinen Texten zu haben (und natürlich in seiner Musik), aber sonst nirgendwo. Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und die Behauptung aufstellen, daß es die Frankfurter Schule gar nicht gibt. Es gibt nur Einzelne, und noch von der allen gemeinsamen kritischen Theorie gilt, daß es immer der Einzelne ist, der als Einzelner protestiert. Es sind seine Idiosynkrasien, die ihn hellsichtig machen. „Der Tick wird zum Vergrößerungsglas.“ (Adorno)

Wer je einen Blick in Horkheimers Dämmerung oder in Adornos Minima Moralia getan hat, weiß, daß die beiden (um nur sie zu nennen, ähnliches gilt aber für alle, die zeitweise der 'Zeitschrift für Sozialforschung‘ nahestanden) sich in der Abneigung gegen alles Schulmeisterliche trafen, in der Überzeugung, daß es in einer Zeit des Brüchigwerdens allen Wissens anmaßend sei, eineLehre verkünden zu wollen. Alles Schulmäßige stellten sie in Frage, nicht bloß den Betrieb, noch den Sinn von Wissenschaft, zumindest aber die Verabsolutierung der Einzelwissenschaften und ihrer Logik, die Departementalisierung, wie sie es nannten. Frühzeitig haben sie vor der Erstarrung der Aufklärung in Dogmatismus gewarnt: „Nimmt Aufklärung die Reflexion auf ihr rückläufiges Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr Schicksal.“ Vor allem war es die Abtrennung des Glücks vom Programm der Aufklärung, wogegen sie Einspruch erhoben, aber auch gegen eine bestimmte Verwissenschaftlichung der Sprache und sogar noch des Denkens, gegen einen leerlaufenden akademischen Diskurs, der nicht auf das Glück der Einsicht zielt, sondern auf Regeln, an denen die Dazugehörigen einander erkennen. Zu jeder Schule, zu jedem Denklager gehört obligatorischer Optimismus und latenter Dogmatismus, gehört schließlich der Glaube an die eigene Wichtigkeit und die Überzeugung, recht zu haben. Wie hätte Adorno naiv irgendwelche Werte als Fahne eines Lagers hochhalten sollen, da doch seine unmethodische Methode der Zweifel war? Wenn man ihn aber gezwungen hätte, zu wählen, so hätte er sich, glaube ich, für die Selbstkritik der Vernunft entschieden.

Es gibt keine Frankfurter Schule, dafür gibt es zwei unvereinbare Sichtweisen, die uns heute unter diesem Deck und Sammelnamen angeboten werden. Was die leichtgläubige Öffentlichkeit dafür hält und was als Frankfurter Schule von einer verbiesterten Rechten bekämpft wird, ist ein zur Norm erstarrtes Klischee.

Adorno war wesentlich Schriftsteller. Schreibend hat er dasjenige zu bewahren gesucht, was im Begriff stand, aus der Wirklichkeit zu verschwinden. Unterm Druck einer doppelten Opposition: gegen den deutschen Faschismus, aber auch gegen eine bestimmte Mentalität der zukünftigen Sieger, derer, die ihm Zuflucht gewährten, arbeitete er trotzig diejenigen Elemente heraus, die sich dem Schema einer furchtbaren Vereinheitlichung und Vereinfachung nicht fügten: Unwägbarkeiten wie Takt - „Takt ist eine Differenzbestimmung, er besteht in wissenden Abweichungen“ -, Höflichkeit - „der Höfliche läuft Gefahr, für unhöflich gehalten zu werden, weil er von der Höflichkeit wie von einem überholten Vorrecht Gebrauch macht“ -, Zärtlichkeit, Großzügigkeit, Rücksicht, das Nutzlose, Überflüssige, Geträumte, alles Indirekte, das Schenken - „der Verfall des Schenkens läßt sich ablesen an der peinlichen Erfindung von Geschenkartikeln“ - und sogar das Zögern. Die Schere des Fortschritts hat solche Unwägbarkeiten einer humanen Kultur gnadenlos weggeschnitten.

Schriftstellern wie Adorno ist es zu verdanken, daß sie im Augenblick ihres Verschwindens noch einmal aufleuchten. Seine Minima Moralia sind kein Buch über Werke, sondern über ein letzten Endes ästhetisches Verhalten, ein Buch über das richtige Leben, das abwesend ist. „La vraie vie est absente“ (Rimbaud). Weil es indirektes Verhalten ist, verweigert das ästhetische Verhalten sich der Kommunikation. „Das Mitgeteilte soll an Kommunikation nicht verraten werden“, heißt es sibyllinisch bei Adorno. Die kritische Vernunft, wie er sie versteht, ist eine lebendige, immer nur aus Widersprüchen lebende Vernunft, die nicht in Schritten, sondern blitzartig zu ihren Einsichten kommt. Kritische Vernunft verschmilzt ihm mit dem ästhetischen Denken und setzte der Gewohnheit ihr Veto entgegen. Das Gewohnheitshandeln kann unmöglich schon der sittliche Lebenszusammenhang sein.

Die Söhne der reeducation haben für derlei altmodische Schnörkel nicht mehr viel übrig. Kritiklos haben sie die populistischen Glaubenssätze progressiven amerikanischen Denkens übernommen, die übrigens einige amerikanische Intellektuelle inzwischen hinter sich gelassen haben. Sie glauben an eine Welt der Kommunikation, die - wie Botho Strauss es in seiner Büchnerpreisrede ausdrückte - Millionen von Eingeschlossenen lediglich vorgespielt wird. Sie glauben an eine neue Direktheit, die sie Aufrichtigkeit nennen, an Diskussion und kritische Öffentlichkeit und schwenken stolz diese Werte des Liberalismus in Richtung auf die Konservativen, die ihrerseits Söhne der reeducation sind.

Zwei unvereinbare Sichtweisen, wie gesagt: die einen glauben, die Vernunft sei ein Fundament, sie könne und solle Letztbegründungen liefern für einen sittlichen Lebenszusammenhang; die anderen hingegen konfrontieren die Rationalität der Mittel mit der Roheit des Ganzen. Sie weisen, etwa am Beispiel der Libertins des Marquis de Sade nach, daß in zierlichen, von der Aufklärung geliehenen Worten, der Massenmord gerechtfertigt werden kann. Die Guillotine war zweifellos ein immenser technischer Fortschritt gegenüber dem vorindustriellen Beil und seither sind die Techniken des Mordes immer mehr rationalisiert und perfektioniert worden. Von der Vernunft allein, die selber nur Mittel ist, lassen sich demnach Argumente gegen den Mord nicht herleiten. Umso lebenswichtiger die Unwägbarkeiten, von denen ich sprach, Elemente eines Verhaltens, für das das Moralische sich von selbst versteht und das gewaltloser Einspruch gegen Gewalt wäre, wenn, ja wenn nicht längst die rohe Direktheit den Sieg davongetragen hätte. Wo alles Indirekte beseitigt wird, bleibt nur die Gerade als kürzeste Verbindung zwischen zwei Personen übrig, die behandelt werden als wären sie Punkte.

Die Frage, welche die Dialektik der Aufklärung stellt, ob die Vernunft zur universalistischen Grundlage tauge, ob sie Letztbegründungen liefern könne, ob aus ihr Prinzipien sich herleiten ließen, wird unter Berufung auf die jahrtausendlange Verstrickung von Vernunft in Barbarei verneint.

Adorno hatte mit einer ästhetischen Vernunftkritik begonnen. Der positiven Vernunft hatte er die kritische Vernunft entgegengesetzt. Habermas stellt dieeine widerspruchsfreie, positive Vernunft wieder her. Alles würde er am liebsten widerspruchsfrei und vernünftig machen, sogar die Ästhetik. Dem Lager der Aufklärung ist die Dialektik der Aufklärung daher ein Dorn im Auge. Sie wird als ein „schwarzes Buch“ aus der reinen Lehre ausgegrenzt. Adorno träumt von einer Welt, in der endlich vernünftige Zustände hergestellt wären, dabei hätte er von Habermas lernen können, daß diese Zustände da sind, und der Verdacht drängt sich auf, daß Adorno, der ästhetische, vernunftblinde Snob sie auch gar nicht sucht, sondern immer nur dekadente Reize wie Dissonanzen und Paradoxe.

Adorno gilt heute als ein weniger differenzierter, weniger komplexer Vorläufer von Habermas (so Wiggershaus in seiner Adornomonographie). Adornopreisträger Jürgen Habermas wird als derjenige bezeichnet, der die kritische Theorie erweitert und die Frankfurter Schule auf neuen Fundamenten neu errichtet hat, Fundamente, die, wie er selber sagt, so tief angelegt sind, daß Kritik sie nicht mehr anfechten kann. Habermas hat ein Lager errichtet, in das verdienstvolle Männer, immer nur Männer, sich drängen. Ein paar subjektive Impressionen aus dem Prozeß, der Adorno unter dem Vorwand der Rezeption gemacht wird: Anläßlich seines 80.Geburtstages sehen wir Habermas und seine Getreuen sich an dem Ort, an dem Adorno nicht ganz unrühmlich lehrte, wie es gönnerhaft heißt, sich seiner kritischen Fortführung und Explikation widmen. Adornoschüler seien nicht eingeladen worden, hören wir, weil ihnen die zur adäquaten Rezeption unerläßliche Halbdistanz fehle. Der Verstorbene wird als geniale Gestalt überschwänglich gefeiert. Man nennt ihn glanzvoll, großartig in seiner Einseitigkeit und natürlich anregend. Überflüssig zu sagen, daß in diesen Würdigungsformeln zugleich auch ein wenig Ambivalenz mitschwingt. Adornos Tod habe schließlich auch sein Gutes gehabt.

Gleichweit entfernt von den Kunstwerken und von Adornos Intentionen wird nun das geübt, was Habermas stolz die „informierte Auseinandersetzung“ nennt. Prompt stellt sich heraus, daß jeder der Dazugehörigen an Adornos Theorie etwas auszusetzen hat. Adorno sei ein ästhetischer Dezisionist, erklärt Peter Bürger; man müsse ihn erweitern, fügt Wellmer hinzu; er habe die Rezipienten unterschlagen, mäkelt Hans Robert Jauß, und alle unisono finden, ihm fehle die Dimension kommunikativer Rationalität. Adorno wird gelobt, solange er die Rationalität bis hinein in die Kunstwerke aufzeigt, sobald er jedoch von Fortschritten der Gewalt und der Dummheit spricht, wird er getadelt. Bürger zeigt sich erleichert darüber, daß nach so viel dekadentem Formalismus sich bei der Jugend endlich wieder ein gesundes Gefühl für Inhalte regt. Jauß, den der zwanglose Zwang Habermascher Argumente fürs Lager der Aufklärung hat gewinnen können (was angesichts seiner Vergangenheit - er gehörte zur Waffen-SS keine Selbstverständlichkeit ist), bedauert Adornos mangelnden Sinn für Klassik. Seinem zersetzenden Begriff der Negativität hält Jauß die Heldendichtung entgegen, die wäre doch positiv gemeint gewesen. Kunstwerke werden behandelt wie Examenskandidaten. Sie müssen Leistungen erbringen, möglichst noch kommunikative, oder sie fallen durch. „Mimetische Leistungen mit rationalem Kern und illuminierender Wirkung“, definiert Habermas.

Bereits am Sprachgestus wird die Einebnung deutlich. Adorno wird reformiert, d.h. auf die dürre Begrifflichkeit eines kommunikationstheoretischen Modells gebracht. Sein Störendes wird beseitigt. Diese Kritiker, die sich als seine Fortsetzer ausgeben, huldigen einer neuen Harmonie. Dem neuen Vernunftkult haftet in der Tat ein Moment des Klassizismus an, zumindest wenn man einmal mit Adorno sich darauf einigt, daß Klassizismus Verherrlichung des Sieges bürgerlicher Vernunft sei. Ein Denken, dem Brüche, Dissonanzen, Widersprüche ein Greuel sind, manifestiert sich hier. Die unversöhnlichen Elemente sollen zwangsversöhnt werden: Lebenswelt mit Expertenkultur, hohe Kunst mit Konsum, Wissenschaft mit Autonomie und last not least Vernunft mit public relations. Zu einer Spannung kommt es nicht mehr, die Extreme, die sich berühren, sind in trübe Identität übergegangen. Der neue Klassizismus merkt gar nicht, daß er mit den Polarisierungen, die er Adorno vorwirft, auch die produktiven Spannungen beseitigt. Im Grunde findet hier bereits der Abschied von der ästhetischen Moderne statt, von einer nach Extremen polarisierten Gefühlslage, für welche der Kontrast zum formbildenden Mittel wurde. „Veraltet ist stets nur, was mißlang, das gebrochene Versprechen eines Neuen“, hat Adorno gesagt. Nur weil die Gesellschaft ihren Lösungen nicht folgte, sondern hoffnungslos hinter ihnen zurückblieb, kann die Postmoderne ihre Triumphe über die ästhetische Moderne feiern, Klassizismus aber ist eine Variante postmodernen Denkens. Von der Phase der Selbstbezüglichkeit wurde längst zur kommerziellen Vernunft übergegangen, die in ihrem Siegesrausch keine Kritik mehr duldet. Es spiegelt sich hier die Selbstentzweiung des Bürgertums seiner Vernunft gegenüber, die es zugleich steigern und bremsen muß. Fortsetzung nächste Seit

Von Max Weber stammt der paradoxe Begriff einer rationalen Herrschaft, die, wie jede Herrschaft, den ihr entsprechenden Typus der Fügsamkeit hervorgebracht hat. Die spezifisch rationale Variante von Herrschaft besteht darin, daß die Menschen im Namen der Vernunft sich selbst unterdrücken. Der neue Vernunftglaube ist die Ideologie im Stadium rationaler Herrschaft.

Die Liebhaber, die sich in seiner Abwesenheit tummeln, wollen dem toten Adorno beibringen, wie er mit ästhetischen Phänomenen hätte umgehen sollen. Was der Ästhetiker der Sache hinzufügt, gilt ihnen als ein Mangel. Hier kehrt unter neuem Vorzeichen ein alter Streit wieder, den ich den Streit um die Ästhetik nennen möchte. Die Ästhetik ist eine deutsche Erfindung. Allerdings ist sie nicht zum Streit erfunden worden, sondern zur Versöhnung. Der Streit begann vielmehr erst, als die unterm Begriff der Ästhetik Rubrizierten, zunächst nur die Dichter, aber zunehmend auch Vertreter aller Künste und deren Verteidiger, begannen, die säuberlichen Trennungen der Philosophen, die Abgrenzung des Ästhetischen gegen das Ethische, aber auch gegen Erkenntnis, in Frage zu stellen.

Auch sie beriefen sich auf Versöhnung, allerdings auf eine, die mit der Versöhnung der Philosophen nicht zu verwechseln ist, weil sie die Versöhnung des Individuums mit sich selber und nicht die Versöhnung des Besonderen mit dem Allgemeinen meinte, die stets auf Kosten des Besonderen geht. Der Streit fing mit Schiller an, der die Kunstfeindlichkeit der theoretischen Kultur in Deutschland beklagte, wo dem Unbedingten des Gedankens ewig eine ungeistige rohe Hälfte im Menschen gegenübersteht. Er stellte die nach wie vor aktuelle Frage: „Woran liegt es, daß wir immer noch Barbaren sind?“ Demgegenüber taucht erstmals die Forderung auf, daß Phantasie und Gefühl aus ihrer Unmündigkeit heraustreten und mit der Entwicklung der Vernunft Schritt halten sollten. Das Ästhetische, das zunächst nur eine wohltätige Ergänzung, ein Durchgangsstadium zu sein schien, erweist sich als ein Prinzip, das eigene Forderungen aus sich entwickelt. Friedrich Schlegel erhoffte sich von dieser neuen Gottheit nichts Geringeres als eineästhetische Revolution, gewaltlose Variante der französischen, die allerdings nicht im Kopfe haltmachen, sondern den ganzen Menschen, also auch seine Sinnlichkeit, ergreifen sollte.

Damit, so meinte Schlegel, würde ein Punkt ereicht, jenseits dessen ein Rückfall in die Barbarei nicht mehr möglich wäre. Unnötig zu sagen, daß diese Hoffnung sich nicht erfüllte. Die ästhetische Moderne, denn sie ist die oppositionelle Partei in diesem Streit, hat es sich herausgenommen, anfangs noch ein wenig schüchtern, aber zusehends offensiver, die alleskritisierende Philosophie zu kritisieren, nicht ohne ihrerseits von dieser zurechtgewiesen zu werden (Man denke nur an Hegels gehässige Ausfälle gegen Friedrich Schlegel.). Dieser Streit wird nun, wie ich meine, bis heute fortgesetzt. Adorno hatte für die ästhetische Moderne und in ihrem Namen für eine ästhetische Vernunftkritik plädiert. Die Philosophie kontert mit einer theoretischen Kritik derÄsthetischen Theorie. Was sie in ihrer Auseinandersetzung mit Adorno nicht wahrhaben möchte, ist, daß es eine Reflexion geben kann, die von der ästhetischen Erfahrung her inspiriert ist, die also nicht von der Theorie schon mitgebracht wurde. Bubner beispielsweise spricht ein Verwandlungsverbot aus gegenüber der Theorie.

Theorie dürfe sich nicht dem anverwandeln wollen, worüber sie schreibe. Theorie sei Theorie, argumentiert er, und Ästhetik Ästhetik, das heißt aber Nicht-Theorie, also ein Phänomen, das nur von der Theorie her definiert werden kann. Kunst als Erkenntnis gebe es nicht. Erkenntnis gebe sich nur dem philosophischen Auge preis. An der Philosophie sei es, Kunst großmütig in den Rang der Gleichberechtigung zu erheben, so als habe der Künstler sich nicht seit Schiller dem Philosophen letzlich überlegen gefühlt, weil er der Begrifflichkeit, die auch er beherrscht, etwas Wesentliches hinzufügt und so den Abgrund zwischen Anschauung und Begriff überbrücken hilft. Wenn Bubner Adorno vorhält, er habe die Regeln der Philosophie nicht streng genug beachtet, vergißt er, daß es auch ästhetische Regeln gibt und daß für den Verkehr zweier Reiche diplomatische Gepflogenheiten gelten, daß also nicht eines dem anderen seine Bedingungen oktroyieren kann. Schiller hat Fichtes Beitrag für die 'Horen‘ wegen Mangels an ästhetischen Qualitäten abgelehnt. Er, Schiller, respektiere die philosophischen Regeln, schrieb er, sofern aber Fichte über ästhetische Gegenstände handele, sei es billig, von ihm zu fordern, daß auch er dies der Form nach auf ästhetische Weise tue.

Der Begriff einer Ästhetischen Theorie stammt von Friedrich Schlegel. Intendiert ist nicht eine Theorie des Ästhetischen, sondern eine Theorie, die selber ästhetisch wäre, ohne aufzuhören, Theorie zu sein, also einästhetisches Verhalten im Material der Philosophie. Eben ein solches Verhalten hatte Adorno in seinem frühen Kierkegaard-Buch zum ersten Mal skizziert. DieÄsthetische Theorie kann daher auch eine späte Rückkehr zum Anfang heißen. Hebt kritische Theorie an mit dem Bewußtsein des Widerspruchs zur gegenwärtigen Gesellschaft, so die Ästhetische Theorie mit dem Bewußtsein der Nichtidentität.

In der Ästhetischen Theorie versucht Adorno das Nichtidentische, das in der Negativen Dialektik nur ausgespart war, zu beschreiben. Es dehnt sich, bekommt eine Dimension für sich, und diese Dimension ist eben die ästhetische. Die Ästhetische Theorie ist ein Buch, das sich nach der Durchquerung der „Eiswüste der Abstraktion“ wieder aufs „gelobte Land des Konkreten“ zubewegt (so charakterisiert Adorno diesen damals für ihn schon absehbaren Prozeß in einem Brief an mich vom 26.Mai 1966). Dies Konkrete ist nicht ein Erstes, Ursprüngliches. Adorno war zu sehr Hegelianer, als daß er nicht die Unmittelbarkeit unwiderruflich hinter sich glaubte, vielmehr ein zweites geistgeborenes Konkretes. Der Untertitel, den sein Kierkegaard-Buch erläuternd trägt, Konstrukton des Ästhetischen, läßt sich verstehen als die Aufgabe, die er noch in der Ästhetischen Theorie zu lösen versucht: Das Nichtrationale nicht leugnen und doch es konstruieren wollen, das Ästhetische als die Sphäre setzen, in der sich das Gelingen oder Nichtgelingen von Versöhnung abspielt.

Wie Walter Benjamin seinen Begriff der ästhetischen Moderne an Baudelaire, so gewinnt Adorno den seinen an Kierkegaard. Die Kategorie des Ästhetischen ist dabei weder etwas, was an ästhetischen Gegenständen haftet, noch ist es jene unmittelbare Verhaltensweise zum Leben als welche Kierkegaard selber sie in seinen Stadien auf dem Lebenswege beschreibt. Bereits in diesem frühen Buch wird deutlich, daß es Adorno mit dem Ästhetischen nicht um die Beschreibung eines Teilgebiets ging, sondern um eine Grundfigur der menschlichen Existenz, die jedoch unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr religiös, auch nicht ethisch, sondern nur ästhetisch gedacht werden kann. Was also Adorno, der den Jargon der Eigentlichkeit verabscheute, hier entwirft, ist nichts Geringeres als eineÄsthetik der Existenz.

Das Ästhetische verselbständigt sich. Es selbst gewinnt eine widerrufliche Existenz. Nur weil das Leben Schaden genommen hat, können hypertrophe Welten wuchern. Wie aber wenn auf einmal der Schaden sich weigerte, behoben zu werden? Ästhetisch wird eine problematische Denkweise, mehr noch, eine Bewegung des Existierens genannt, eine Philosophie, der Form und Sache nicht mehr identisch sind und die sich daher nur indirekt, mimetisch aussprechen kann. Ästhetisch heißt die Bewegung eines auf sich selber zurückgeworfenen fensterlosen Denkens, eine virtuose Bewegung, die dennoch auf Wahrheit gerichtet ist, auf einen archimedischen Punkt außerhalb.

Adorno gewinnt an Kierkegaard die Beschreibung eines Zustands, einerSituation, die dann als Situation des modernen Künstlers wiederkehrt, einer Situation, in der das Konkrete nur mittelbar, aus der Reflexion produziert, aber nicht mehr unmittelbar angeschaut werden kann. Kierkegaard agiert, wie später Schönberg, in einer nach außen hin abgedichteten, ganz und gar künstlichen Welt. So wird er zum Paradigma des Virtuosen, des einsam Produzierenden, der sich in Schwermut versenkt, um im Medium des Gedankens, aber es könnte auch ein anderes Medium sein, die Musik zum Beispiel, den primitiven Eindruck wiederzufinden.

Virtuos bedient Kierkegaard sich des dialektischen Apparates, den er vorfindet. War dieser von Hegel entwickelt worden, so macht Kierkegaard ihn den ohnmächtigen Bewegungen der einzelmenschlichen Existenz verfügbar, ähnlich wie Schönberg dann das überbesetzte Mammutorchester, das zum rhythmischen Selbstlob des Kollektivs von Wagner geschaffen worden war, einsetzt zur ungehemmten Expression aller Nuancen des Psychischen.

Der Virtuose lebt in einer Gedankenwelt ohne die Welt, in einer Körperwelt ohne den Leib, in einem Seelentreibhaus, einem künstlichen Paradies, in dem die Blumen des Unmöglichen wuchern. Seine Virtuosität besteht darin, daß er, von einer seltsamen Leidenschaft getrieben, in seinem spezialisierten Material die fehlende Welt, den fehlenden Leib noch einmal erzeugt. Ein der Tendenz zur Rationalisierung sich verdankendes Material wird vom Virtuosen benutzt zur Darstellung des Nichtrationalen.

Im Material der Töne, Farben, Worte und sogar des Gedankens werden aus einem ins Leere gehenden mimetischen Impuls heraus (also einem mimetischen Impuls, der nicht der Nachahmung dient) die Bewegungen der Existenz eingefangen. In jene abgedichtete Welt dringt von der „auswendigen Geschichte“ nur der Widerschein. Sie prägt sich nur mittelbar, als reflektierte, aus. Diesem historischen Tatbestand entspricht eine Ästhetik, die sich von der sinnlichen Wahrnehmung löst.

Adornos ästhetische Geschichtsphilosophie ist mißverstanden worden.

Sie geht von der Form aus, und die Grundthese lautet: „Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme der Form.“

Adorno spricht von einem den Materialien eingeschriebenen geschichtlichen Trend, der irreversibel und gerichtet sei. Wie bei Marx der Punkt kommt, an dem die Entwicklung der Produktivkräfte zur Sprengung der Produktionsverhältnisse drängt, so drängt die Entwicklung der künstlerischen Materialien über bestimmte etablierte Formen hinaus.

Adorno beschreibt eindringlich in der Theorie der neuen Musik (und Thomas Mann hat die Beschreibung im Doktor Faustus übernommen) wie Beethoven, scheinbar nur der Caprice der Stunde folgend und ganz versunken in die musikalische Situation, das historische Urteil über die Sonate vollstreckt hat. Die Klaviersonate no 32 c-moll opus 111 schloß er mit dem zweiten Satz ab, einfach weil sie ihm zu fertig zu sein schien. Adorno steht übrigens mit seiner ästhetischen Geschichtsphilosophie nicht allein. Unabhängig voneinander haben der russische Formalist Victor Sklovski und der französische Surrealist Andre Breton sie vertreten. Was Adorno für die Musik aufgezeigt hat, wird von ihnen in Bezug auf Literatur und Malerei bestätigt. Die Künste, so lautet ihre übereinstimmende These, sind nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch immanente Formgesetzlichkeiten, auf die sie umgebende Gesellschaft bezogen. Insofern alle Kunst eine technologische Seite hat, ragt der Trend der Geschichte draußen, der Prozeß der unaufhaltsamen Rationalisierung der Mittel, in die Sphäre der Kunst hinein. Und so gilt auch das Umgekehrte. Indem sie sich ganz sachlich mit Formproblemen herumschlägt, schlägt Kunst sich zugleich mit gesellschaftlichen Problemen herum. In spezialisierten Problemkreisen, die der Virtuose nicht einfach überspringen darf, werden die befreienden Lösungen gefunden. Die Lösungen, die Kunst findet, stehen nach Adorno Theorien gleich. So kommt es, daß beispielsweise Schönbergs Lösungen, trotz seiner Isoliertheit und Avanciertheit, gesamtgesellschaftliche Lösungen sind: Auskomponieren der Spannungen, ihr Weitertreiben bis zum Ausgleich und nicht eine auf Ausschluß basierende Zwangsharmonisierung. Allerdings gibt es wenige unter den Rezipienten, deren Sinnlichkeit sich auf der Höhe ihres Verstandes befindet, die daher solche Lösungen zugleich hören und denken können.

Adorno schließt sich Max Webers Diagnose von der Rationalisierung der abendländischen Musik an. Und doch ist er gerade an diesem Punkt hartnäckig mißverstanden worden.

Im Unterschied zu klassizistischen Ästhetiken, noch der von Arnold Gehlen nämlich, die die ästhetische Technologie einfach in eine Reihe mit der wissenschaftlichen und industriellen Technologie stellen und sie dem gleichen Ziel dienen lassen (der Naturbeherrschung nämlich), konstruiert Adorno sein Ästhetisches als Widerpart zum herrschenden Trend von Geschichte und Gesellschaft. Die zunehmende Vergeistigung der Kunst, ihre Verrätselung, ihr Indirektwerden, aber auch ihre Abdichtung gegens Verstandenwerden durch den rationalen Diskurs dient der Befreiung der Sinne und nicht ihrer zunehmenden Kontrolle und Beherrschung. Diese Umkehrung der Bewegungsrichtung eines scheinbar einliniegen Prozesses der Rationalisierung übersieht Bürger, wenn er schreibt: „Da nach Adorno das künstlerische Material gesellschaftlich bestimmt ist, folgt seine autonome Entwicklung letztlich der gesamtgesellschaftlichen.“ Daß dem präformierten Material gegen die ihm eingeschriebene Tendenz Ausdruck abge Fortsetzung nächste Seit

trotzt wird, wie ja auch der Schriftsteller anschreibt gegen die Worte seiner Zeit, haben die Liebhaber nicht begriffen. Nein, Herr Bürger, die Kunst folgt der Gesellschaft nicht, sie geht ihr voran, weil die Umkehr der Gesellschaft in Richtung auf Naturbefreiung noch nicht stattgefunden hat. Was nach Adorno in der neuen Kunst erprobt wurde, war inhaltlicher Fortschritt; was ausprobiert wurde, waren Techniken der Befreiung und nicht der Beherrschung. Rationalität in der Kunst bedeutet, daß sie, um den Zauber zu lösen, die Melodie noch einmal rückwärts spielt.

Stück für Stück dekonstruiert sie jenen rationalen Bau, der zur Beherrschung der Sinne errichtet wurde, „Kunst mobilisiert Technik in entgegengesetzter Richtung als die Herrschaft es tut“, schreibt Adorno. Und er fährt fort: „Denn der Zweck aller Rationalität, der Inbegriff der naturbeherrschenden Mittel, wäre, was nicht wiederum Mittel ist, ein Nichtrationales also. Eben diese Irrationalität versteckt und verleugnet die kapitalistische Gesellschaft, und dagegen repräsentiert Kunst Wahrheit im doppelten Verstande, in dem, daß sie das von Rationalität verschüttete Bild ihres Zweckes festhält, und indem sie das Bestehende seiner Irrationalität: ihres Widersinns überführt.“

Was jenes Ziel, jenen inhaltlichen Fortschritt angeht, so zeichnet sich in Adornos Ästhetischer Theorie eine Einsicht ab, die mit dem Marxismus nicht mehr vereinbar ist: daß die Bewegung der Totalität ziellos ist, daß die Geschichte sich zwar in Gegensätzen bewegt, daß es aber einen Fortschritt nicht gibt. Adorno betont das Kreisähnliche der Geschichte.

Die Menschheit glaube vorwärtszuwandern, dabei gehe sie immer nur um einen Pflock herum, an der mehr oder weniger kurzen Leine der Herrschaft. Unaufhaltsamer Fortschritt sei gekoppelt an unaufhaltsame Regression. Die Zäsur ist die, daß Adorno aufgehört hat, von der gesellschaftlichen Praxis die Lösung des Wahrheitsproblems zu erwarten. Bleibt die ästhetische Praxis, deren Objektivität jetzt von der Gesellschaft nicht mehr garantiert werden kann. Adorno muß also das Ästhetische neu konstruieren und zwar so, daß es in historische Bedingungen nicht mehr auflösbar ist, sondern in ein selbständiges Verhältnis zur Wahrheit tritt, wie der Einzelne einst bei Kierkegaard. Sogar noch die utopische Lösung verwirft er, dies ewige Hinausschieben des Erhofften in die Zukunft. Und doch geht ein Aufatmen durch dies späte Buch, das nichts von Resignation hat.

Adornos Kritik an der idealistischen Selbstherrlichkeit des Subjekts hat sich radikalisiert an der Praxis eines falschen Humanismus, der alles vom Subjekt nicht Durchherrschte verdorren läßt. Es ist fast so, als wäre er von der unverstellten Expression zum Ausdruckslosen übergegangen, zu einer Sphäre, die der Abbildung menschlicher Gefühle völlig entrückt ist. In jedem Kunstwerk, heißt es, gebe es eine Tür, durch die man aus der Geschichte heraustreten kann. Eben dies Heraustreten wird als ein Aufatmen beschrieben, Aufatmen in einer Welt, die am Nurmenschlichen zu ersticken droht. Die Geschichte der Kunst verläuft quer zur Geschichte. Kunst steht in unauflöslicher unterirdischer Beziehung zu einer vieltausendjährigen Tradition, einer Tradition, die der Geschichte vorhergeht und ihr widersteht.

Solche Tradition hat mit der Fassade von Kunst nichs zu tun, die Jauß bei Adorno einklagt, mit jener obligaten Ehrfurcht vor Zelebritäten der Vergangenheit, an denen Kritik und Frage verstummt. Immer aufs Neue hat Kunst, aus Treue zur Tradition, an der sie wie an einer Nabelschnur hängt, Traditonsfassaden sprengen müssen.

Die einzelnen Kunstsparten haben sich in der Moderne gegeneinander verselbständigt, so daß jede sich zu einem Kosmos für sich gebildet hat, in deren Grenzen der Virtuose gebannt ist, ohne jemals anders als durch Analogieschlüsse die Gesetze der Nebenwelt zu erraten. Mit diesen künstlichen Welten bilden sich hypertrophe Sinne aus, deren jeder sich allen anderen gegenüber auf den Kopf stellt. Jeder einzelne dieser Sinne nimmt es sich heraus, alle anderen Sinne zu imitieren. Das Ohr denkt, sieht, fühlt, schmeckt, redet wohl gar. Der Musiker ist ganz Ohr.

Er ist ein Monstrum, denn was durchs Ohr nicht in ihn dringt, existiert für ihn nicht. Die Künstler sind ebensoweit vom vollständigen Menschen entfernt wie alle übrigen Menschen. Sie können nicht stellvertretend für die anderen Mensch sein. Es gibt aber eine süße Erinnerung, schmerzliche Präsenz des Abwesenden, die Präsenz dessen, was nur durch einen Sinn hindurch anwesend ist und doch die Existenz als Ganze berührt.

Adorno konstruiert Kierkegaard kühn ästhetisch, indem er einfach die religiöse Transzendenz wegläßt, aber nicht ganz, denn jenen Punkt außerhalb behält er bei. Er heißt jedoch nicht mehr Gott, sondern - und das betrifft zentral das Thema unseres Symposions - er heißt jetzt das Neue. Die Bewegung der Existenz wird von Adorno nicht mehr idealistisch als Streben nach einem Höheren interpretiert, sonden beschworen im Bild des Sinkens, als unaufhaltsamer, aber ruhiger Sturz.

Der Fluch der Moderne ist die Immergleichheit. Die Bewegung der Existenz ist die verzweifelte, atemlos kreisende Bewegung dessen, der dem Immergleichen entkommen möchte und der dunkel ahnt, daß es Neues nur für den geben kann, der auf dem Grund des Unbekannten aufschlägt. „Au fond de l'inconnu pour trouver du nouveau.“ (Baudelaire)

Alles, was draußen ist, alles Verlorene, wird nur noch im Bild beschworen. Die Bewegung der Existenz ist eine wirbelnde Bewegung in die Tiefe, die mitten im Fall wie durch ein Wunder innezuhalten scheint, es ist die Obsession eines positiven Nichts, ein phantasmagorisches Licht, die Sehnsucht nach dem Niegewesenen.

Adornos Kierkegaard-Buch trägt ein geheimnisvolles Motto, das Edgar Allan Poes Sturz in den Malstrom entnommen ist. Fremd und erratisch steht es da. Erst sehr viel später ist Adorno darauf zurückgekommen und hat es gedeutet: „Das Schiff schien wie durch Magie mitten im Falle an der Innenfläche eines Trichters von gewaltigem Umkreis und ungeheurer Tiefe zu hängen. Seine vollkommen glatten Seiten hätte man für Ebenholz halten können, wäre nicht die bestürzende Schnelligkeit ihres rasenden Umlaufs gewesen und der funkelnde, gespenstische Glanz, der von ihnen ausging, da die Strahlen des Vollmonds aus der runden Öffnung zwischen den Wolken... in einer Flut voll goldener Klarheit an den schwarzen Wänden bis in die verborgensten Tiefen des Abgrunds hinab niederströmten.“ Für Adorno ist dies bewegte Bild mehr als ein Bild. Es ist die Allegorie des Neuen.

Die Moderne ist das Zeitalter des massenhaft Gleichartigen. Dem modernen Verbraucher muß das Neue die entschwindende Individualität ersetzen. Für ihn zählt immer nur das letzte Stück in der Serie. Diesem seriell Neuen nun schleudert die ästhetische Moderne ihr absolut Neues entgegen, das jedoch veralten mußte, weil die Gesellschaft den von ihr aufgezeigten Lösungen nicht folgte. Die Werke der ästhetischen Moderne sind längst einverleibt worden. Sie werden zu reduzierten Preisen einem widerstrebenden Publikum eingeflößt.

Aus der Dialektik des alten Neuen und des neuen Alten entsteht jenes Moment an Adornos Denken, das als Schrulle eines Esoterikers oder auch als Idiosynkrasie eines Geistesakrobaten ganz besonders wenig Zustimmung gefunden hat. Ich meine seine Kritik an der Kulturindustrie. Der amerikanische Adornokenner Jay betont, wie unverständlich den Amerikanern lange Zeit die scharfe Kritik Adornos an der Massenkultur gewesen sei und charakterisiert die amerikanischen Vorurteile gegenüber Adorno folgendermaßen: „Der sensible Mandarin aus Europa ist vom Kommerzialismus, von der Vulgarität und der Theorie-Rückständigkeit seiner vorübergehenden Heimat schockiert und bestürzt. Die assimilativen Neigungen anderer Emigranten tut er ab als die Form eifriger Anpassug an ökonomische Notwendigkeiten, er selbst eilt, sobald sich Gelegenheit dazu ergibt, nach Deutschland zurück.“

Aber Jay, darin hebt er sich wohltuend von den bundesdeutschen Teilnehmern der ersten Adornokonferenz ab, verteidigt Adorno gegenüber solchen Voreingenommenheiten. Keineswegs könne er des Antiamerikanismus geziehen werden, vielmehr habe er in Amerika (auf das er zugegebenermaßen idiosynkratisch reagierte) die Fähigkeit erworben, Kultur von außen zu betrachten und vor allem die Trends, die im Europa der Nachkriegszeit allererst eintreten sollten, prophetisch vorherzusagen. In ihrem Kulturindustriekapitel haben Horkheimer und Adorno in der Tat Tendenzen auskomponiert, die eben erst im Entstehen waren.

Gibt es etwas Aktuelleres als ihre Kritik des Fernsehens zu einer Zeit, da dies neue Medium, auch in Amerika seinen Siegeszug noch nicht begonnen hatte? Eine Synthese aus Rundfunk und Film nennen sie es, die die Verarmung der Sinne und der ästhetischen Materialien radikal zu steigern verspricht. Oder auch: die hohnlachende Erfüllung des Wagnerschen Traumes vom Gesamtkunstwerk. Wort, Bild und Ton könnten von nun an so geschickt kombiniert werden, daß man die Schnittstellen nicht mehr bemerkte. Dokumentarisches und Propaganda könnten bruchlos ineinander übergehen. Auch hierzulande ist Adornos Kritik der Kulturindustrie auf besonders dornigen Boden gefallen.

Ja, ich gehe sogar so weit zu vermuten, daß die ungleich größere Schätzung, die unter Zünftigen bei uns Benjamin gegenüber Adorno zuteil wird, keineswegs mit dem esoterischen und komplexen Gesamtwerk Benjamins zu tun hat, sondern ganz allein auf Benjamins Reproduzierbarkeitsthese beruht, die mit der Entwicklung der modernen Medien vereinbar zu sein scheint, auch wenn Benjamins Vorhersage eines sachlich testenden Verhältnisses zu den Medien nicht eingetreten ist. Weder die faschistischen Massen noch die Teilnehmer an einem Popkonzert können als sachlich testend in ihren Reaktionen beschrieben werden.

Eher ist eben jene Tendenz zum Kultischen begünstigt worden, die die Apparatur doch angeblich abschaffen sollte. Von den Liebhabern wird Adorno Volksfremdheit, Böswilligkeit, ja sogar „blinde Wut“ unterstellt, nur weil er auf der tiefen Kluft zwischen uneingelöster ästhetischer Moderne und Kulturindustrie beharrt. In der Medienwelt herrsche nur scheinbar die Kategorie des Neuen, so lautet Adornos Grundthese. In Wirklichkeit erlebe jedoch der Verbraucher die Wiederholung des Immergleichen. Das präparierte Ohr und das präparierte Auge können angesichts der standardisierten Unterhaltungsproduktion die Fortsetzung je schon erraten und fühlen sich überglücklich, wenn ihre Vorhersage eintritt.

Adorno, der zum Kummer seiner Liebhaber die Theorie des kommunikativen Handelns nicht mehr miterlebt hat, hat vorweg den Massenkommunikationsmitteln Einseitigkeit bescheinigt. Die Replik des Konsumenten bleibe aus oder sei auf den apokryphen Bereich des Amateurbastlers beschränkt.

Einschaltquote und Einkommensziffer legitimieren alles in einer Kultur, an der Millionen teilnehmen und die es notwendig macht, daß an zahlreichen Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern beliefert werden, ein nicht mehr zu durchbrechender Zirkel von Manipulation und rückwirkendem Bedürfnis. Die Kulturindustrie schafft süchtigmachende Strukturen, ja, dem Neuen selber haftet unter diesen Bedingungen ein Moment von Sucht an, von ständigem Abbrechen, Neuanfangen und Nieanszielkommen.

Erlauben Sie mir, Adornos polemische Musik noch einmal zu spielen - presto, so daß sie auf unsere Verhältnisse paßt -: Die Spontaneität des Publikums wird gesteuert und absorbiert, stillschweigende Verabredung der kommerziellen Exekutivgewalten, nicht durchzulassen oder herzustellen, was ihnen selber nicht gleicht. Die objektive gesellschaftliche Tendenz inkarniert sich in den subjektiven Absichten der Generaldirektoren auf den Gebieten des Stahls, Petroleums, der Waffen, der Elektrizität und der Chemie.

Die Kulturindustrie muß sich sputen, um es den wahren Machthabern recht zu machen. Die Sendegesellschaften hängen von der Elektroindustrie ab und die Filmindustrie von den Banken. Die Geschichten in den Magazinen unterscheiden sich je nach Preislage. Was von der Verbraucherseite zur Schau gestellte Konsumtion, ist von der Seite der Produzenten zur Schau gestellte Investition. Die sinnlichen Elemente werden eingesetzt, um einspruchslos allesamt die Oberfläche der gesellschaftlichen Realität zu prtotokollieren, sodaß die Sphäre der Verdoppelung nicht, wie die Kunst, sinnliche Darstellung des Unsinnlichen, sondern buchstäbliche, geistlose Verdoppelung ist. Kulturindustrie als Triumph des investierten Kapitals. Die Unterhaltungsindustrie liefert traumlose Kunst fürs Volk, fungible Details, kurze einprägsame Intervallfolgen.

Die Straße draußen wird als Fortsetzung des Lichtspiels wahrgenommen, was allmählich zu der Täuschung führt, daß die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt.

Es sind Kracauers Lektionen, die hier Früchte tragen. Meisterschaft des photographischen Schusses auf Hungernde, Triumph der ästhetischen Barbarei, ein System der Nichtkultur, dem man selbst eine gewisse Einheit des Stils zugestehen dürfte, falls es nämlich noch Sinn hat, von einer stilisierten Barbarei zu reden.

Das Kulturindustriekapitel der Dialektik der Aufklärung bricht in der ersten Fassung plötzlich ab und es folgt in Klammern (fortzusetzen). Es ist Teil jener großen Enzyklopädie der menschlichen Dummheit, an der von Flaubert über Joyce und Adorno viele gearbeitet haben, ein work in progress für welches das Material leider nie ausgeht.