„Ich dachte, die Ehe sei Freundschaft“

Für kurdische Frauen ist der Wunsch des Mannes Befehl / Nur die Toleranz der Männer erlaubt Schritte in die Emanzipation  ■  Von Antje Bauer

Daß Müschrike schon mit fünfzehn heiratete, daran ist ihr großer Bruder Hassan schuld. Sie selber wäre lieber aufs Gymnasium gegangen, hätte vielleicht sogar studiert. Ihr Vater, ein aufgeschlossener Kaufmann im türkischen Städtchen Nusaybin an der syrischen Grenze, hätte ihr das nicht nur gestattet, sondern auch finanziert. Doch Hassan hatte sich stur gestellt: „Entweder sie oder ich“, hatte er gesagt, und damnit war die Entscheidung klar gewesen. Die Abneigung Hassans gegenüber dem Bildungshunger seiner Schwester hatte auf schlichter Bequemlichkeit beruht. Oder auf Friedlichkeit, das ist Ansichtssache. Müschrike hätte dieselbe Schule besucht wie ihr großer Bruder, und dieser hätte seine heranwachsende Schwester auf jedem Schulweg vor den unsittlichen Anspielungen der Männer in Schutz nehmen bzw. sich ihretwegen prügeln müssen. Dazu hatte er keine Lust. Also blieb Müschrike zu Hause, und als der junge Ingenieur Osman um ihre Hand anhielt, bekam er sie. Sich großartig erst kennenzulernen war nicht. Das ist nicht üblich.

In der Hochzeitsnacht legte sich Müschrike auf ein weißes Tuch, das auf das Laken genäht war. Das zeigte sie am nächsten Morgen der Schwiegermutter. Wenn es so weiß wie am Vortag gewesen wäre, hätte die Familie ihres Mannes sie in schwarze Gewänder gehüllt und zu ihren Eltern zurückgebracht. Denen wäre nichts anderes übrig geblieben, als die unkeusche Braut umzubringen. „Ich hatte Angst“, erzählt Müschrike. „Ich hatte im Fernsehen gehört, daß Frauen manchmal nicht bluten, obwohl sie Jungfrauen sind. Wenn mir das passiert wäre...“

Doch sie hatte Glück. Den Beweis für ihre Jungfräulichkeit, das rotbefleckte Tuch, bewahrt sie in einer Truhe auf. Die Drohung mit der zweiten Frau

Heute ist Müschrike 26. Durch sechs Geburten ist ihr Körper schwer und weich geworden, ihre Bewegungen haben etwas vorzeitig Behäbiges. „Ich hatte mir die Ehe anders vorgestellt“, erzählt sie. „Ich hatte gedacht, das sei so etwas wie eine Freundschaft. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, daß es vor allem Befehle sein würden: tu dies, tu jenes, warum ist das noch nicht geschehen.“ Dabei muß sie sich glücklich schätzen, denn während die meisten Frauen in der Gegend von sämtlichen männlichen Erwachsenen der Familie nach Herzenslust verprügelt werden, wird Müschrike noch nicht einmal von ihrem Mann geschlagen. Er hat auch keine Anstalten gemacht, eine zweite Frau zu nehmen - eine in der Türkei vom Gesetz zwar verbotene, aber in ländlichen Gebieten dennoch übliche Praxis. „Wenn eine Frau nur Töchter gebiert oder gar keine Kinder kriegt, nimmt der Mann gewöhnlich eine zweite Frau. Wenns mit der auch nicht klappt, noch eine weitere“, berichtet Müschrike. Gibt das denn keinen Ärger unter den Frauen? Sie lacht bitter. „Natürlich gibt das Streit. Aber was sollen die Frauen denn tun? Wenn sie sich wehren, lacht das ganze Dorf über sie.“

Müschrikes Schwester Medine kann keine Kinder kriegen. Wenige Jahre nach der Hochzeit hatte deshalb ihr Schwiegervater, ein strenggläubiger Moslem, begonnen, seinen Sohn zu einer zweiten Ehe zu drängen. Doch der wollte nicht. Gegen den Willen des Schwiegervaters adoptierten sie schließlich die neugeborene dritte Tochter von Müschrike. Die Familie und das Dorf sahen diesem Müttertausch kopfschüttelnd zu. „Einen Sohn hat Müschrike ihrer Schwester nicht abgegeben“, bemerkt ein Familienmitglied boshaft. Söhne sind die Trümpfe guter Ehefrauen. Müschrikes zweiter kam „aus Zufall“, wie sie sagt. „Aber es war dann doch ganz gut.“ So waren es zwei Jungs: „Jetzt kann keiner etwas sagen, weil ich keine Kinder mehr haben will.“ Ihr Vater, berichtet sie erfreut, habe diesem Entscheid zugestimmt.

Das türkische Bürgerliche Gesetzbuch, das 1926 unter Kemal Atatürk verabschiedet wurde, sieht gleiche Rechte von Frauen und Männern in der Ehe vor. In jenen Jahren wurden den Frauen auch die Universitäten geöffnet. Doch diese Gesetze wurden einer Gesellschaft aufgezwungen, die nach den althergebrachten patriarchalischen Regeln lebte. Noch heute haben sie in den ländlichen Gebieten der Türkei de facto keine Wirkung. Dies gilt vor allem für den armen und rückständigen Südosten des Landes, in dem vor allem Kurden leben. Hier ist der Wunsch des Mannes noch immer Befehl für die Frau. Wie lange ein Mädchen die Schule besucht, wann und wen sie heiratet und unter welchen Bedingungen sie lebt, hängt von der Entscheidung der Männer ab - des Vaters zuerst und dann des Ehemannes. Müschrikes Mutter, eine Araberin, die die Sprache ihres kurdischen Ehemannes nur bruchstückhaft und Türkisch überhaupt nicht spricht, hat vierzehn Kinder zur Welt gebracht. Ihr Mann, ein tiefgläubiger Moslem, hat es allen seinen Kindern, nicht nur, wie sonst üblich, allein den Söhnen, ermöglicht, über die Grundschule hinaus etwas zu lernen.

Müschrikes Schwester Medine ist Krankenschwester geworden und übt ihren Beruf selbst nach ihrer Eheschließung noch aus - eine wirkliche Ausnahme. Hanife, mit vierzehn die Jüngste, geht noch zur Schule und will das Abitur machen. Sie trägt eine Pluderhose und darüber ein Sweatshirt. Die Wände ihres Zimmers hat sie mit Zeitungsausschnitten internationaler Schlagerstars beklebt. Es könnte genausogut das Zimmer einer westeuropäischen 'Bravo'-Leserin sein. Diese Freiheit verdankt sie der Toleranz ihres Vaters. Wieviel ihr von dieser Freiheit erhalten bleiben wird, wenn sie erst einmal heiratet, hängt nur zu einem geringen Teil von ihren Wünschen ab. Wenn sie Glück hat, wird sie einen modernen Ehemann finden wie Medine. Wahrscheinlicher ist es, daß sie einen Ehemann bekommt, der sie wie ihre Schwester Müschrike in sein Heimatdorf mitnimmt, wo sie sich zwar relativ frei bewegen kann, aber kontinuierlich der Kontrolle durch die Schwiegereltern ausgesetzt ist. Scheichmus geht allein spazieren

Vielleicht wird es ihr auch gehen wie Saliha. Die ist aus einem kleinen kurdischen Bergdorf in die Großstadt Diyarbakir verheiratet worden. Einen Monat nach der Hochzeit ist ihr Ehemann Scheichmus in die Westtürkei gezogen, um dort in den Touristenzentren als Kellner zu arbeiten. Seine junge Frau hat er in der Obhut seiner Familie zurückgelassen. Jetzt, im Winter, ist Scheichmus nach Diyarbakir zurückgekehrt. Er findet dort keine Arbeit. Vielleicht sucht er auch nicht wirklich, denn er sehnt sich in den reicheren Westen zurück. Morgens verläßt er das Haus, schlendert den Tag lang durch die Stadt, während seine hochschwangere Frau in Begleitung ihrer Schwägerinnen und der Schwiegermutter die Wohnung säubert, einkauft, wäscht und dann herumsitzt und auf ihn wartet. Abends um elf kehrt er meist zurück. Häufig hat er dann bereits ein paar Bier getrunkten und ist streitlustig. Saliha klagt nur leise und macht ein freundliches Gesicht dabei. Sie beschwert sich auch nicht, daß Scheichmus sie niemals spazierenführt und sie von der Stadt nur den nächstgelegenen kleinen Markt sieht. Sie ist es gewohnt, ebenso wie ihre junge Verwandte, die eben zu Besuch gekommen ist. Erst vor der Haustür hat sie das schwarze Tuch abgenommen, das sie seit der Abreise aus ihrem Dorf vor ihrem Gesicht hängen hatte. „Die Männer aus den Nachbardörfern dürfen mein Gesicht nicht sehen“, erklärt sie. „Das wäre unschicklich.“

Wenn sie Pech hat, könnte es der jungen Hanife in ein paar Jahren so gehen wie Gülseren. Die wollte ursprünglich gar nicht heiraten. Sie machte für andere Leute Näharbeiten und kümmerte sich um ihre alten Eltern. Wenn ihr langweilig war, ging sie ein wenig in Nusaybin, wo sie wohnte, spazieren. Doch dann starben, kurz hintereinander, ihre Eltern, sie blieb allein. Bald darauf heiratete sie. Ihr Mann, Hassan, arbeitet in der Gemeindeverwaltung der Kleinstadt Mardin. Abends, bevor er nach Hause zurückkehrt, geht er auf den Markt einkaufen. Seine Frau lebt in der gemeinsamen Ein -Zimmer-Wohnung und kümmert sich um ihren kleinen Sohn. Die Wohnung ist zu Lebzeiten zu ihrem Grab geworden. Sie verläßt sie nie.

Wenn Müschrike zu Hause aus dem Fenster schaut, sieht sie in hundert Metern Entfernung einen Stacheldrahtzaun und weiter weg eine Ortschaft mit modernen Gebäuden. Das ist Syrien. Sie ist ein paarmal dort gewesen. Fast jeder hier hat Verwandte auf der anderen Seite des Zauns. Aufgefallen ist ihr vor allem, daß dort die Frauen völlig unverschleiert gehen und viele von ihnen in Läden und Amtsstuben arbeiten. Diesseits des Stacheldrahtes gibt es so etwas nicht. „Vielleicht wäre es besser, es so zu machen wie Ihr Frauen in Europa“, meint sie nachdenklich. „Aber davon sie wir noch weit entfernt.“